D'Artagnan schlich aus dem Zimmer und traf Rochefort im langgestreckten Flur dahinter an. Das Haus war altes Fachwerk, stabil gebaut, doch wegen der kleinen Fenster recht dunkel. Die Decken waren niedrig, man konnte, ohne sich besonders zu recken, nach den Balken fassen. Die Wände fühlten sich kühl an und trafen in keinem einzigen geraden Winkel aufeinander. Es roch nach Holz und Putz, nach frischer Wäsche und Brot, nach gut bürgerlicher Stube. Rochefort schien sich umzusehen, ob sie wirklich unbemerkt geblieben waren und bedeutete dann, ihm zu folgen. D'Artagnan schloss auf und fragte leise: »Wir sind allein?«
»Nein.« Rochefort nickte zu einer Zimmertür, ein paar Schritte entfernt. Sie war nur angelehnt, ein Schatten bewegte sich unter der Ritze, schien zu lauern. Wer auch immer dort war, demjenigen konnte der Einbruch nicht entgangen sein, nicht der Lärm vom Wirtshaus, der Schuss oder jetzt die lauten Rufe der Stadtwache.
»Verschwinden wir.«
Der Aufforderung hätte es nicht bedurft, Rochefort war schon der halben Treppe ins untere Stockwerk gefolgt, spähte über das Geländer und setzte seinen Weg eilig fort. D'Artagnan humpelte nicht ganz so geschickt hinterher und sah am Treppenabsatz über die Schulter zurück.
Die junge Frau an der Tür erwiderte seinen Blick ohne Scheu und eher skeptisch als überrascht. Sie schien die Tochter des Hauses zu sein, kaum zwanzig Jahre alt. Sie trug ein schlichtes Kleid, das mehr der Nützlichkeit im Alltag als der Betonung ihrer Schönheit diente. Ihr kupferfarbenes Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten und rahmte ein schmales Gesicht. Sie musterte den Eindringling abschätzend, ihre grünen Augen im faszinierenden Kontrast zu ihrem Rotschopf. War sie aus Neugier aus dem Zimmer getreten, statt sich versteckt zu halten? Sie wirkte misstrauisch und entschlossen, keine Spur verängstigt - und sie hatte eine Pistole auf d'Artagnan gerichtet.
Er wagte nicht, sich zu rühren. Stattdessen versuchte er sich in seinem charmantesten, entschuldigendem Lächeln und erntete dafür ein missbilligendes Stirnrunzeln. Die Waffe lag ruhig in der Hand der Mademoiselle, sie schien damit umgehen zu können. Noch überdachte sie wohl ihre nächsten Schritte und sagte kein Wort. Sie verlangte keine Erklärung von ihm, sondern schien eigene Schlüsse aus dem zu ziehen, was sie sah und von draußen hörte.
Für einen flüchtigen Moment fragte sich d'Artagnan, wie ihre Stimme wohl klingen mochte. Jetzt funkelte sie ihn empört an, als er frech einen Finger an die Lippen legte, ihr zuzwinkerte und dann wie selbstverständlich die Treppe hinunterstieg.
Die Stimme der Mademoiselle blieb ein Geheimnis, denn sie forderte ihn nicht zum Stehenbleiben auf oder alarmierte die übrigen Bewohner, sie rief nicht die Stadtwache im Innenhof zur Hilfe. Sie jagte ihm auch keine Kugel hinterher.
D'Artagnan fragte sich, wie er unbehelligt die Haustür erreichen konnte. Teufel, er fragte sich, wann er überhaupt die letzten Schritte zur Haustür zurückgelegt hatte und ob diese flüchtige Begegnung nicht nur ein Tagtraum gewesen war! Zerschunden, blutig und verdreckt, hätte er sich selbst nicht bloß mit einem entwaffnenden Lächeln davonkommen lassen.
Rochefort wartete an der Tür und d'Artagnan blinzelte aus seinen letzten Überlegungen gerissen, als er ihn ungeduldig am Arm fasste und damit seine Aufmerksamkeit wieder auf die Flucht lenkte. Ihm schien die junge Frau nicht aufgefallen zu sein und d'Artagnan vergaß über das dringlichere Problem, nicht doch noch verhaftet zu werden, sie zu erwähnen.
Die Tür war zum Glück kein weiteres Hindernis, problemlos ließ sie sich öffnen und nach einem letzten, umsichtigen Zögern traten die Männer auf die Straße.
Alles in allem hatten sie sich weniger als fünf Minuten im Haus aufgehalten - aber d'Artagnan ahnte, dass es sich um fünf der wichtigsten Minuten seines Lebens gehandelt hatte.
Als d'Artagnan seine Wohnung in der Rue Tiquetonne erreicht hatte, humpelte er nicht mehr. Vielleicht war er zu gedankenversunken, um seinen lädierten Knochen weitere Beachtung zu schenken oder er wollte schlicht keine Schwäche vor Rochefort eingestehen. Der Stallmeister hatte sich ihm mit einem knappen: »Ich begleite Euch.« angeschlossen und d'Artagnan widersprach nicht.
Unterwegs blieben sie unbehelligt von der Stadtwache oder weiteren Provokationen, allenfalls ein paar abschätzende Blicke folgten ihnen ob des zerzausten Auftretens des ehemaligen Musketiers. D'Artagnan scherte sich nicht weiter darum, für heute hatte er genug Streit angezettelt und mit den Jahren in Paris sah er auch nicht mehr in jeder Bemerkung oder in jedem Blick einen Angriff auf seine Ehre. Sogar das letzte Duell mit Rochefort lag schon einige Jahre zurück und aus diesem waren sie als Freunde hervorgegangen. Darum legten sie schweigend, wie selbstverständlich gemeinsam den Weg zurück und genauso selbstverständlich ließ d'Artagnan den Stallmeister in seine Wohnung eintreten, ohne dass es irgendwelcher Worte bedurft hätte.
Während sich d'Artagnan in seinem Schlafzimmer an der Waschschüssel erfrischte und wieder einigermaßen repräsentabel herrichtete, entkorkte Rochefort eine Flasche guten Weins aus Anjou aus dem Vorrat in der Küche.
Mit Bechern und Getränk ausgerüstet, schlenderte der Stallmeister hinüber in den Salon und ließ sich in einem bequemen Sessel nieder. Er musste zugeben, d'Artagnan hatte sich nicht schlecht eingerichtet. Als Leutnant konnte er nicht gerade wie die Made im Speck leben, aber er hatte eine gute Wohnung gefunden, nachdem er aus seiner alten Mansarde ausgezogen war. Er schien hier bestens versorgt und spöttisch fragte Rochefort, als d'Artagnan sich in einem frischen Hemd und mit weniger blutiger Nase zu ihm gesellte: »Ist Eure Wirtin gar nicht da? Sie stürzt doch sonst sofort herbei, wenn Ihr auch nur einen kleinen Kratzer abbekommen habt und macht ein Zeter und Mordio.«
»Spottet nur, Rochefort.« erwiderte der Jüngere mit einem halben Lächeln und ließ sich Wein einschenken. »Die Chevrette ist eine gute Frau.«
»Sie hält Euer Bett warm.«
»Sie lässt mich auch ohne festen Sold zur Miete wohnen.« D'Artagnan ertappte sich dabei, dass seine Gedanken, während er über seine Wirtin sprach, schon wieder zurück in das Haus beim Drei Kronen und zu der unverhofften Begegnung mit der Mademoiselle dort wanderten. Ihr entschlossener Blick, die Pistole. Hatte sie ihn denn wirklich bedroht? Nein, sie hätte auch einfach in ihrem Zimmer bleiben können. Hatte sie dann vielleicht jemand anderen beschützt? Jüngere Geschwister zum Beispiel? Sie hatte ein entzückendes Grübchen am Kinn.
Rochefort lehnte sich im Sessel zurück und musterte den Leutnant über den Rand seines Weinglases. »Wie lange soll das noch so gehen?«
»Ich hoffe doch sehr, noch eine Weile!« D'Artagnan wusste, dass sein Gegenüber nicht sein Verhältnis mit der Chevrette gemeint hatte und leider ließ der Stallmeister es nach dieser ausweichenden Antwort auch nicht auf sich beruhen.
»Ihr wollt noch eine Weile zwischen Heim und Taverne pendeln, je nachdem, wo sich gerade mehr Wein befindet? Mein Lieber, Ihr habt Euch schlechte Angewohnheiten abgeguckt.«
»Von Euch?«
»Von Athos.«
Ein Ausdruck von Verbitterung stahl sich in d'Artagnans Miene. »Athos hat geerbt und auf seinem Landsitz andere Sorgen, als sich noch weiter um die Belange in Paris zu scheren. Ihr, Rochefort, seid der einzige Freund, der mir geblieben ist.«
»Ja, und die Narben Eurer Freundschaft trage ich noch heute.« prostete Rochefort dem anderen ohne Groll zu. »Eine weitere ist mir nun erspart geblieben, aber das nächste Mal fische ich Euch nicht aus dem Getümmel.«
D'Artagnan lachte auf. »Oho, Graf! Da habt Ihr etwas getan! Wie fühlt es sich an, im rechten Moment herbeizueilen und der Held zu sein?«
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