D'Artagnan steckte den ersten Schlag mit angespannten Muskeln ein, trotzdem trieb es ihm fast die Luft aus den Lungen. Rein instinktiv wand er sich in der Umklammerung - und kam frei. Es überraschte nicht nur ihn selbst. Das gesamte Drei Kronen hielt den Atem an, als der Tagelöhner ächzend zusammensackte und mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf liegenblieb.
»Habt Ihr die Lektion damals in Meung noch immer nicht gelernt?«
Rochefort stellte einen Bierkrug ab und machte einen großen Schritt über den Bewusstlosen am Boden, um sich neben d'Artagnan zu gesellen. Tadelnd maß er ihn, wie ein Lehrer den Schüler. »Kneipenschlägereien solltet Ihr nur mit einem Freund im Rücken anzetteln.«
D'Artagnan schnaubte abfällig, ohne die beiden übrigen Raufbolde aus dem Blick zu lassen. »Dann bleibt besser hinter meinem Rücken, bevor Ihr Euch dieses Mal selbst ein Veilchen holt.«
»Ein Veilchen? Die Meute will Blut sehen.«
D'Artagnan riss gerade rechtzeitig schützend einen Arm hoch, als ein Becher knapp an seinem Ohr vorbeiflog. Das war das allgemeine Signal und wo eben noch die Zuschauer einen Halbkreis gebildet hatten, wogte plötzlich eine prügelnde Menge vor und zurück. Der Leutnant verlor Rochefort aus den Augen, als er sich im Durcheinander der Schlacht unter einem Schwinger mit einem abgebrochenen Stuhlbein wegducken musste. Rückzug war plötzlich eine erstrebenswerte Option geworden.
Vielleicht sprach es während der nächsten Augenblicke für den Ruf des Drei Kronen , dass keine Waffen gezogen wurden; und da dieser Tage jedermann das Allzweckwerkzeug 'Messer' mit sich führte, hätte nur allzu schnell aus einer Schlägerei ein Krieg werden können. Der Kampf war trotzdem lärmend und heftig und griff sogar auf die Straße vor dem Wirtshaus über; eben noch neugierig durch die Fenster spähende Passanten waren auf einmal in Faustkämpfe miteinander verwickelt, bei denen jeder auf jeden einschlug, ohne recht den Grund dafür zu wissen. Der Wirt drückte sich kreidebleich in eine Ecke und jemand musste entdeckt haben, dass sich nicht nur Krüge und Becher, sondern auch Weinflaschen trefflich werfen ließen.
Glas splitterte knapp über d’Artagnans Kopf und Scherben gingen auf seinen Federhut nieder. Er hatte zu lange an einem Ort verweilt und darum ein lohnenswertes Ziel abgegeben. Fluchend gab er auf, weiter nach Rochefort Ausschau zu halten und bahnte sich geduckt einen Weg an umgestürzten Tischen und Stühlen vorbei. Zwei Fronten kämpften miteinander; links gegen rechts, vielleicht auch vorn gegen hinten. Sobald eine von beiden Parteien besiegt wäre, würde die verbliebene den Konflikt gegen sich selbst richten, bis die Stadtwache einschritt.
D'Artagnan stand nicht der Sinn nach Arrest und damit dem Verlust der kümmerlichen Reste seiner Reputation und Ehre, die er sich noch bewahrt hatte. Er stellte einem Kerl ein Bein, der mit gehobenen Fäusten auf ihn zugerannt kam und sah sich in einer Atempause um. Im hinteren Teil des Schankraums führte eine Tür in den Innenhof hinaus; und da war auch Rochefort.
Der Stallmeister schien nicht einen Kratzer abbekommen zu haben, allenfalls sein Mantel war etwas in Unordnung geraten. Er wartete an der Tür, bis d'Artagnan mit weiterem Ducken, Ausweichen und im Vorbeilaufen einen Fausthieb austeilend einen Weg zu ihm gefunden hatte. Ein kurzer Blickwechsel, dann folgte er Rochefort sofort hinaus auf den Innenhof. Aber kaum hatte d'Artagnan die Tür hinter sich gelassen, riss ihn jemand an der Schulter herum und schlug zu. Wieder sah er Sterne und taumelte zurück, wieder war es Rochefort in seinem Rücken, der ihn vorm Fall bewahrte.
Mit einem wütenden Brüllen schüttelte d'Artagnan die helfende Hand ab und zog seine Pistole. Der Angriff des Landarbeiters endete abrupt, als er in die Mündung der Waffe starrte. Kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn, Todesangst in den Augen. Für einen endlos scheinenden Augenblick geschah nichts. Dann krümmte d'Artagnan den Finger am Abzug.
»D'Artagnan!«
Der Befehlston ließ den ehemaligen Musketier innehalten. Sein Finger verharrte weiterhin kurz vorm Auslösen am Abzug, als Rochefort neben ihn trat und gelassen meinte: »Schießt, und Ihr seid binnen einer Stunde in der Bastille.«
»Ihr würdet mich da wieder herausholen, Freund .«
»Ja.« Rochefort nickte knapp und ohne Mitleid für den unglücklichen Raufbold, der schielend noch immer die Pistole anstarrte und einen wimmernden Laut von sich gab.
D'Artagnan brachte mühsam beherrscht zwischen den Zähnen hervor: »Also?«
»Also werdet Ihr mir Euer Leben und mehr als einen Gefallen schulden. Das vereinfacht mir natürlich eine gewisse Angelegenheit.« Rochefort machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur zu, erschießt diesen Tölpel. Ob er die Schuld wert ist? Noch vermute ich einen Funken Verstand in Euch.«
»Ah, vermutet Ihr?«
»Selbstachtung steht offenbar nicht zur Debatte.«
Der Pistolengriff verfehlte Rochefort nur deshalb, weil er rechtzeitig das Handgelenk d'Artagnans zu fassen bekam und den Schlag ablenkte. Ein Schuss löste sich und verlor sich irgendwo im Himmel über Paris. Der Landarbeiter schrie in Panik und stolperte auf der Flucht über seine eigenen Füße, während hinter ihm Leutnant und Stallmeister verbissen um die Oberhand rangen.
Im Wirtshaus hatte man den Schuss gehört und jetzt versuchte jeder nur noch davonzukommen. Der Kampflärm veränderte sich, zeugte jetzt von nackter Angst ums eigene Leben und Flucht. Endlich stolperte der Landarbeiter wieder zurück in den Schrankraum, zu seinen Freunden. Die Tür zum Innenhof fiel zu.
Als das Klacken im Schloss zu hören war, entließ Rochefort den Leutnant aus dem Schwitzkasten und klopfte ihm auf die Schulter. »Ihr lasst nach.«
D'Artagnan schenkte ihm einen finsteren Blick und hob seine Pistole auf, die er während des Gerangels verloren hatte. »Wollt Ihr Euch doch noch ein Veilchen einfangen? Der nächste Hieb ist kein Schauspiel, um einen Dummkopf zu erschrecken.«
»Ich verzichte, Ihr habt schon genug Federn für uns beide gelassen.« stellte Rochefort trocken fest, während d'Artagnan mit saurer Miene die Blutspur auf seinem Hemdsärmel betrachtete, nachdem er sich übers Gesicht gewischt hatte. Der Musketier sagte nichts mehr dazu, rückte seinen Hut zurecht und erfasste zum ersten Mal richtig den Innenhof. Eine Sackgasse, eingerahmt von efeuumrankten Häuserfronten. Sein Blick blieb schließlich an einem offenen Fenster in einem höher gelegenen Stockwerk des Nachbarhauses hängen. Er seufzte.
»Exakt.« Rochefort wandte sich zu schnell ab, als dass d'Artagnan ihm tatsächlich ein wölfisches Grinsen hätte unterstellen können. Der Stallmeister ging voraus und kletterte an einem stabilen Rosenspalier zum Fenster hinauf. Nach einem prüfenden Blick zog er sich an den Fensterläden ins Haus hinein.
D'Artagnan wartete eine Weile auf entsetztes Kreischen oder zornige Rufe der Bewohner. Als das ausblieb, machte auch er sich an den Aufstieg.
Es gelang dem Leutnant einigermaßen zügig, trotz seines schmerzenden Knies, es Rochefort gleichzutun und in das Haus zu klettern. Gerade rechtzeitig, kaum hatte er den Fuß vom Fensterbrett genommen, musste er sich auch schon ducken, denn die Stadtwache stürmte mit lautem Getöse den Innenhof. Spätestens jetzt wollte niemand mehr etwas mit den Vorfällen um das Drei Kronen zu tun haben.
D'Artagnan lauschte auf den Lärm von draußen, auf die herrischen Zurufe und schlagenden Türen, während er mit einem raschen Blick den Raum um sich einschätzte. Es war ein Schlafzimmer. Nahe des Fensters befand sich ein Bett, die Laken zerwühlt, als wären sie am Morgen hektisch verlassen worden. Eine Kleiderkommode stand am Fußende, ein Schemel in einer Ecke, über den ein Hemd achtlos geworfen war. Es bedeckte halb ein Paar Reitstiefel, die daneben lehnten. Eine Junggesellenbehausung, so schien es. Kein Grund, noch länger hier zu verweilen.
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