Ich schaue zur Seite und halte nach einem Pfleger Ausschau. Doch niemand ist zu sehen.
Sam verpasst mir eine Ohrfeige. „Ich bin nicht verrückt!“ Er knurrt und fletscht die Zähne. Schließlich presst er mir die Hand in den Nacken und zieht mein Gesicht in Richtung des Bildes. Ich habe keine andere Wahl, als mir das Aquarell anzusehen.
Vor meinen Augen beginnen die Farben und Konturen zu verschwimmen. Die Blumen verlieren ihre Blütenblätter und an der Fassade des Hauses entstehen Risse. Aus der Mitte breitet sich Finsternis aus, bis die Leinwand tintenschwarz schimmert.
Inmitten der Dunkelheit zeichnet sich die Silhouette eines Gesichts ab. Es ist ein Mann, dessen Augen weit aus den Höhlen treten und der verzweifelt um Hilfe schreit. Sein Körper wird sichtbar. Er trägt eine Zwangsweste und wird von zwei Männern an eine Bank geschnallt. Sein Mund wird mit Klebeband versiegelt. Die Schreie ersticken. Der Körper des Geknebelten beginnt heftig zu zucken. Die Panik in seinen Gesichtszügen wird immer größer.
Die Männer reißen ihm das Hemd auf und befestigen mehrere Elektroden an seiner Brust. Eine weitere Person tritt hinzu. Sie gibt den Übrigen Anweisungen und zählt mit ihren Fingern einen Countdown. Am Ende durchfährt den Gefesselten einen Stromstoß. Er ist so stark, dass ich die Schmerzen an meinem eigenen Körper spüre.
Ich schreie laut auf. Schweiß tritt mir auf die Stirn und mein Herz hämmert wild gegen meine Brust.
Plötzlich löst sich der Druck an meinem Nacken und ich sinke erschöpft zu Boden. Ich wische mir über die Augen und sehe wieder die Anstalt und den Garten auf der Leinwand.
Sam wird von zwei Pflegern festgehalten. Er tritt wild um sich und versucht, aus dem Griff zu entkommen.
„Ich bin nicht verrückt!“, brüllt mein Bruder aus tiefster Kehle. Dann fängt er laut an zu lachen. „Sag es ihnen, Colby. Sie müssen es alle erfahren.“
Ein weiterer Pfleger kommt angerannt. In seiner Hand hält er eine Spritze, deren Nadel sich einen Augenblick später in Sams Arm bohrt. Wie von Zauberhand verfliegt seine Rage und er sinkt müde zusammen.
Ashley betritt den Gemeinschaftsraum. „Colby, ist Ihnen etwas passiert?“ Besorgt kniet sie neben mir nieder.
„Mir geht es gut“, behaupte ich.
Die Pfleger tragen Sam zurück in sein Zimmer und ich komme mit Ashleys Hilfe wieder auf die Beine.
„Sam hat den ganzen Tag über behauptet, Sie wären mit Abstand genauso verrückt wie er.“
„Er…er wird sich doch wieder beruhigen?“
Ashley scheint überrascht von meiner Frage zu sein. Sicherlich versteht sie nicht, weshalb ich mir Sorgen um Sam mache, nachdem er mich so drangsaliert hat.
„Jeder Tag ist anders. Morgen haben sich die Wogen in Sams Welt wieder geglättet.“ Ashleys Worte spenden mir etwas Trost.
Als wir das Gemeinschaftszimmer verlassen, werfe ich noch einmal einen Blick auf das Bild. Die Konturen verändern sich erneut, doch dieses Mal wende ich mich rechtzeitig ab.
Was ich gesehen habe, erinnert mich an meine Entscheidung. An die Gründe, warum ich sie getroffen habe.
Ich werde nie wieder malen. Mich nie wieder der Schönheit eines Bildes widmen.
Es ist keine Gabe. Es ist ein Fluch.
Mit dem langen, bronzefarbenen Schlüssel in ihrer Hand öffnete Viviane das Holztor des Schuppens. Ich spähte hinein, konnte aber aufgrund der Dämmerung nichts erkennen.
„Einen kleinen Moment“, sagte Viviane und tastete die Wand zur rechten Seite des Eingangs ab. Sekunden später erhellte der angenehme Schein einer Lampe das Atelier. Es erinnerte mich an das Mondlicht einer Sommernacht.
„Als ich das Haus vor gut fünfzehn Jahren gekauft habe, wurden hier noch Gartengeräte und Werkzeug aufbewahrt“, verriet Grandma, während ich mich umsah. Im vorderen Teil standen Leinwände, Farbeimer und einige Kisten, während in der Nähe zweier großer Fenster die Staffelei thronte. Die Wände waren ähnlich wie im Haus geschmückt. Ein Speer, dessen dunkle Spitze mehrere, bunte Federn zierten, wurde durch zwei Eisenringe an der Wand gehalten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein ovalförmiger Teppich. Das Muster der Webarbeit glich einer Sonne, deren Zentrum im Licht fahl schimmerte. Als ich zurück zur Tür sah, entdeckte ich oberhalb des Rahmens eine der mir bereits bekannten, unheimlichen Masken.
Mich beschlich das Gefühl, eine tropische Welt betreten zu haben und meine kindliche Phantasie malte sich aus, dass sich irgendwo in dem Schuppen die exotischsten Tiere verstecken.
Viviane lief zur Staffelei hinüber und zog eine weiße Leinwand hervor. Mit schnellen Handgriffen richtete sie Pinsel und eine Farbpalette.
Während ich ihr zusah, dachte ich an die Skizze, die am Nachmittag auf rätselhafte Weise entstanden war und Anspannung breitete sich erneut in mir aus.
Ich war nach wie vor davon überzeugt, dass dieses Bild unmöglich von mir stammte. Ich hatte mich auf die Trauerweide konzentriert und zu keiner Zeit an den Garten gedacht. Wie konnte so etwas also passieren?
Ich überlegte, wenn ich hier nun erneut male, würde das gleiche wieder geschehen?
Viviane winkte mich zu sich an die Leinwand heran und auf einmal verflog meine Nervosität. Sobald Grandma in meiner Nähe war, fühlte ich mich sicher.
Sie reichte mir einen Pinsel und die Palette, auf der sie glänzende Farbtupfer in nahezu allen Tönen des Regenbogens aufgetragen hatte.
„Du darfst dir ein Motiv aussuchen. Was möchtest du gerne malen?“
Ich überlegte einen Augenblick, konnte mich aber nicht entscheiden. Was sollte das erste Bild werden, das ich mit Ölfarbe auf einer Leinwand festhalten wollte?
„Ich weiß es nicht, es ist so schwer.“
„Schließ deine Augen und vertrau deinem Gefühl. Das erste, was du sehen wirst, ist es wert, dir Portrait zu stehen.“
„Ich probier es“, stimmte ich zu. Ich schloss die Augen und fand zunächst nichts außer Dunkelheit. „Ich sehe gar nichts“, sagte ich besorgt.
Grandma kniete zu mir nieder und legte mir ihre Hände auf die Schultern.
„Hab ein wenig Geduld“, flüsterte sie.
Ein merkwürdiges Gefühl brachte meine Haut zum Kribbeln. Plötzlich erhellte etwas die Finsternis vor meinen Augen und ich durchstreifte den Wald entlang des Sees. Ich stand an der Stelle, von der mir Viviane verraten hatte, sie ermögliche einem einen leichten Einstieg ins Wasser. Es war am frühen Abend und die Sonne tauchte die Wasseroberfläche in rotgoldenen Glanz. Das Bild vor meinem geistigen Auge war so intensiv – so real –, dass ich glaubte, ich könne tatsächlich in das Wasser steigen.
Ich öffnete die Augen und lächelte. „Ich weiß, was ich malen möchte.“ Viviane trat hinter mich und umschlang meine Hand mit der ihren.
„Mit welcher Farbe möchtest du beginnen?“
„Blau“, antwortete ich.
Gemeinsam tunkten wir den Pinsel vorsichtig in den blauen Farbklecks auf der Palette. Grandma führte mir vor, wie ich die flüssige Farbe am besten an den Borsten halten konnte und ich sah ihr fasziniert zu. Dann lies sie meine Hand los.
„Die Leinwand gehört dir.“
Ich suchte mir einen Punkt aus dem Bild in meiner Vorstellung und führte den Pinsel auf die weiße Fläche. Behutsam zog ich die Konturen des Sees auf der Leinwand nach. Zu meiner Überraschung war es wesentlich leichter, als ich erwartet hatte.
Viviane schien bemerkt zu haben, wie viel Spaß mir das Malen bereitete. „Probier dich ruhig aus“, ermutigte sie mich.
Ich konzentrierte mich und wählte den nächsten Farbton, mit dem ich das Portrait des Sees fortführen wollte. Ich nahm ein anderes Blau und lies es mit dem ersten eins werden. Je länger ich malte, desto deutlicher sah ich das Bild des Sees vor mir. In meiner Phantasie hatte es längst die Leinwand bedeckt und alles, was ich zu tun hatte, war mit den Farben meiner Palette die Fläche auszufüllen. Wie auch am Nachmittag begann ich um mich herum alles zu vergessen. Für mich gab es nur diese Leinwand, den Pinsel und die Farben.
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