Philosophie also. Dem Philosoph‘ ist nix zu doof. Die Entscheidung stand. Ich werde Philosoph.
Meine Eltern waren damals nicht gerade begeistert, als ich ihnen eröffnete, dass ich mein junges Leben einfach über den Haufen zu werfen gedachte, um mich den wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu widmen. Wähnten sie mich doch in einem festen Job mit großartiger Zukunft und damit sich selbst in Sicherheit. In trügerischer Sicherheit. Dachten sie doch, ich wäre endlich im Leben angekommen, erwachsen, vernünftig geworden. Vernunft, das war meinen Eltern, vor allem meinem Vater, immer sehr wichtig. Vernunft, oder das, was sie dafürhielten.
Nicht, dass mein Vater nicht vernünftig war, oder was ich dafürhielt; er war sehr gebildet, er war sogar sehr intelligent und er war... konservativ. Kriegsflüchtling aus Pommern. Das roch mir zu sehr nach Reaktionismus, Bund der Vertriebenen, Deutschland in den Grenzen von 1939 usw. Und das roch nicht nur so, so war er auch. Aber das habe ich ihm damals gar nicht vorgeworfen. Er konnte ja nichts für sein Leben. Er war eben ein Kind seiner Zeit.
Ich natürlich auch, ich war auch ein Kind meiner Zeit. Aber die Zeiten waren jetzt eben anders und ich war... jung. Das passte nicht. Das passte bei uns nie. Wenn mein Vater sagte, es geht rechts rum, dann bin ich aus Prinzip links herumgegangen. Wenn mein Vater mich vorwärts drängte, blieb ich demonstrativ stehen, wenn er mich zum Einhalten bewegen wollte, stürmte ich los. Wenn er „Hüh!" sagte, sagte ich „Hott!", wenn er mir ein autoritäres „Nein!" an den Kopf schmiss, konterte ich ihm ein aufbegehrendes „Doch!" entgegen. Wir hatten uns eigentlich immer in den Haaren.
Meine Mutter war... nett. Ja.
Und dann waren da noch meine drei Brüder. Vier Jungs also. Zunächst. Es sollten mehr werden. Aber noch nicht gleich. Erst viel später. Damals waren wir vier. Wie die Orgelpfeifen. Mein ältester Bruder Philipp, mit vollem Namen Hans-Joachim-Philipp, genannt Lülle, sollte nach den Vorstellungen meines Vaters einmal Bundeskanzler werden. Mindestens! Und er war damals tatsächlich in der Jungen Union aktiv, dieser Jugendorganisation der CDU, in der sich das ganze Yuppiegesocks tummelte. Diese komischen stereotypen Typen, die karierte Karottenhosen, Slipper mit Bommelchen und Poppertolle trugen und staatstragend herum schwafelten: "Freiheit statt Sozialismus". Was war das für ein Scheiß! Im Bundestagswahlkampf von 1980 hatte er sogar ein Plakat von FJS in seinem Zimmer. Was für ein Konterrevolutionär! Für mich waren das uniforme Reaktionäre, gleichgeschaltete Vollpfosten. Ich dagegen war in der Sozialistischen Schüler-Union. Ich gehörte zu den Guten. Wir sahen cooler aus, hatten lange Haare, Flickenjeans und Bundeswehrparker - den trugen wir natürlich nur aus Protest und weil das alle so machten - und vor allem hatten wir diesen unheilschwangeren Blick, der mal vom bevorstehenden Weltuntergang zeugte und mal die, in Kürze zu erwartende, Übernahme der Weltherrschaft durch die Arbeiterklasse vorankündigte. Und wir hatten auch die cooleren Sprüche, wie "Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!" Wir waren Individualisten. Echt.
Der nächst ältere hieß Peter-Christian, genannt Pitze-Patze-Putze-Peter. Der war immer irgendwie nur so da. War so ein richtiges Sandwichkind. Zwischen Lülle und mir. In der Mitte. Ich glaube, er war auch politisch irgendwie in der Mitte. Sagte nie etwas dazu. Pitze-Patze-Putze fiel auch gar nicht besonders auf. Mit nix. Störte auch niemanden. Mit nix. Stotterte dafür. Oder deswegen. Außerdem war er blond und hatte blaue Augen. Wir anderen waren dunkelhaarig und braunäugig. Ich hatte - und ich habe - keine Antwort darauf.
Der dritte war also ich, Harry, genannt Negerlein - frag mich einer, warum!?
Klammer auf: Aber ich will jetzt nicht die ganze Zeit von mir reden, sonst heißt es hinterher noch, der nimmt sich aber wichtig! Klammer zu .
Und dann war da noch zu guter Letzt der Purzel, der vierte der Quadriga, der eigentlich Henning heißt. Der Kleine eben. Ein richtiges Arschloch, weil der uns Große immer terrorisierte. Und wenn wir ihn zur Strafe kollektiv verhauen wollten, rannte er zu unserer Mutter und forderte, laut „Mama, Mama" plärrend, Welpenschutz ein. Weichei! Und überhaupt. Lülle hatte drei richtige Vornamen, mein zweitältester Bruder Pitze-Patze zwei und ich als dritter wenigstens noch einen. Wenngleich es meinen Eltern offensichtlich schwerfiel, einen vernünftigen Namen für mich zu finden und sie mir den Namen meines Vaters gaben. Aber warum hatte Purzel überhaupt einen Namen? „Nummer vier" hätte doch gereicht und wäre in meiner Zählweise nur konsequent gewesen. Aber meine Eltern waren nie sonderlich konsequent. Vor allem mein Vater nicht. Er hatte zwar viele Prinzipien wie Fleiß, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Treue und so, aber ich konnte mich schon früh des Verdachtes nicht erwehren, dass die nur für die anderen galten. Sich selbst gegenüber war er da nicht ganz so streng.
Wahrscheinlich war meine Mutter auch nur darum so nett, weil sie vier Jungs hatte. Was blieb ihr auch? Als einzige Frau in einem Haushalt mit fünf Männern muss man nett sein. Selbst unser Hund Carlo war ein Rüde. Die arme Frau.
Kapitel Nummer kurz vor drei
Klammer auf: Ich habe die Kapitelunterteilungen durchaus bewusst gewählt. Ich habe mich bei den Unterteilungen stringent darangehalten, das nicht am Inhalt zu orientieren, sondern an den realen Bedürfnissen. Ihren und meinen. Ich muss mir jetzt zum Beispiel einen Kaffee holen. Jetzt. Vielleicht mögen Sie in der Zwischenzeit pinkeln gehen oder den Rasen mähen. Klammer zu.
Aber es war nicht alles schlecht. Überhaupt nicht. Ich hatte sogar eine ausgesprochen behütete Kindheit. Wir wohnten in unserem eigenen Haus in einem kleinen, aber leider auch äußerst beschaulichen Dorf, mein Vater war Regierungsdirektor für Agrar und Forsten in Hannover, begeisterter Hobbysegler und Jäger. Meine Mutter war nach der Geburt der vier Kinder Hausfrau und Mutter. Und damit hatte sie mehr als genug zu tun. Es ging uns gut. Uns fehlte nix. Wir hatten sogar ein paar Jahre lang ein Ferienhaus am Steinhuder Meer, wo wir schon als Knirpse das Segeln lernten und mein kleiner Bruder Purzel schmerzhaft - und um ein Haar tödlich - verinnerlichen musste, dass vor dem Schwimmen-können das Schwimmen-lernen steht. Er rannte nämlich, damals vielleicht vier Jahre alt, einen Bootssteg entlang, versäumte oder schaffte es einfach nicht, rechtzeitig zu bremsen und fiel - platsch - ins Wasser. Einfach so. Zum Glück war Lülle in der Nähe und rettete den hilflos um sich schlagenden, zappelnden und schreienden Purzel aus den Fluten des Steinhuder Meeres. Verdient hatte er es eigentlich nicht. Er brüllte trotz seiner Rettung wie am Spieß. Ein Riesenspaß.
Wir vier Jungs verstanden uns richtig gut, nachdem wir Purzel die richtige Rangfolge und Dienstgrade beigebracht hatten. Wir hatten nun eine sinnvolle Hackordnung, prügelten uns regelmäßig, stritten und vertrugen uns wieder und terrorisierten nach Kräften unsere Umwelt. Allen voran meine Eltern. Dabei verstanden wir uns besonders gut. Mit meinem Bruder Pitze-Patze spielte ich sogar jahrelang gemeinsam in verschiedenen Schülerbands, die so abstruse Namen wie "Desaster", "Sudden Fear" oder "Six feet under" hatten. So hat sich das dann auch angehört. Ich spielte Gitarre, mein Bruder Schlagzeug. Und zur großen Freude meiner Eltern haben wir in unserem Haus geprobt.
Wir hatten Tiere, wir hatten Räder und später Mofas, wir hatten Freunde, wir hatten Freiheiten, wir hatten eigentlich alles, was man sich wünschen kann. Auch wenn man das als pubertierender Jugendlicher natürlich ganz anders sieht. Vor allem defizitär. Aber, summa summarum, eine schöne Kindheit und Jugend.
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