Und dank Pauls, dann doch recht unkomplizierten Art. Er war nie wirklich krank, er schlief viel, ließ mich arbeiten, lernen und wenn er satt war, dann war er einfach zufrieden mit sich und der Welt. Und ein bisschen wohl auch mit mir. Wir waren ein gutes Team. Und ich fand, er stand mir. Er stand mir wirklich gut.
Wenn wir beide mit dem Kinderwagen durch die Stadt zogen, ins Café oder in irgendeine Kneipe gingen, dann zogen wir schnell die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen auf uns. Vor allem die Aufmerksamkeit der Frauen. Ja, die Frauen standen auf uns. Sie fanden uns unheimlich süß. Mittlerweile hatte ich die Goldrandbrille gegen eine echte Jean-Paul-Sartre-Gedächtnis-Brille eingetauscht - ich war ja nun schlauer - trug wieder selbstbewusst und selbstzufrieden meinen schwarzen Rollkragenpullover und vermittelte einen souveränen und abgeklärten Eindruck. Ich war einer, der nicht anders konnte, als er konnte. Ich war das fleischgewordene Pendant zum Protagonisten aus Max Frischs "Homo Faber", der sich in sein eigenes, zum Machen verdonnertes Dasein, völlig verstrickt hatte. So wie ich. Zumindest sah ich das so. Aber man braucht ja so etwas wie ein Selbstbild. Meins war nun also Faber. Ich war zufrieden und so wollte ich auch rüberkommen. Zufrieden, weise - aber doch hungrig. Hungrig auf Sabeth, das Leben, Fabers unbekannte Tochter - die er in seiner Liebe zu ihr verloren hatte. Und sich selbst. Aber das wusste er ja nicht.
Klammer auf: Das schien mir damals das Wesen der Tragödie zu sein. Keiner weiß, warum, aber gelitten wurde auf allen Seiten. Klammer zu.
Sollte das Leben doch kommen! Mich konnte nichts mehr erschüttern. Die Frauen mussten mich lieben. Und wenn sie mich beißen wollten, tödlich vielleicht sogar, dann jetzt. 13
Vor allem Paul entpuppte sich als echter Womanizer. Mit seiner fröhlichen Art machte er so manche Frau schwach und damit für seinen Papa klar. Dafür muss ich mich bei Gelegenheit noch mal bei ihm bedanken.
Von Heike hatten wir beide schon lange nichts mehr gehört. Ich hatte keine Ahnung, wo sie steckte oder was sie machte. Ich wollte das auch gar nicht wissen. Viel schlimmer war, dass ich auch überhaupt keine Ahnung hatte, was ich denn nun machen sollte. Examen in der Tasche, und nun? Normalerweise schließt sich ja an das erste Staatsexamen das Vikariat an. So etwas Ähnliches wie das Referendariat bei Lehrern. Da geht man quasi ein Jahr lang bei einem Pastor, dem Vikariatsvater, in die praktische Ausbildung. Man kauft sich so einen lächerlichen schwarzen Mantel, den Talar, der die Würde des Amtes betonen soll, wickelt sich ein reines, weißes Beffchen um den Hals, das für die unbefleckte Reinheit steht, übt sich im Predigen, Beerdigen, Trauen, Taufen, Konfirmanden nerven und darin, diesen merkwürdig erlösten und beseelten Gesichtsausdruck, wie nur Pfarrer ihn haben, einzustudieren. Wie kriegen die das bloß hin? Mein Gesichtsausdruck war nie beseelt. Wovon auch? Und wozu? Und natürlich musste man diese gestelzte Sprache lernen, die die Pfaffen gleichsam mit dem Talar anzuziehen scheinen. All das, was ich nicht wollte. Auf gar keinen Fall. Und noch einen "Vater" wollte ich schon gar nicht. Davon hatte ich die Schnauze voll.
Auf der anderen Seite wollte ich natürlich mein Studium richtig zu Ende bringen, also auch noch das zweite Staatsexamen machen. Sonst wäre es nix Halbes und nix Ganzes. Ich wollte endlich mal etwas zu Ende bringen. Das setzte aber nun mal das Vikariat voraus. Zumal sich daran noch das Hauptstudium II anschließt, in dem man zwei Semester lang seine praktischen Erfahrungen reflektiert und zu seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Hauptstudium I ins Verhältnis setzt. Das reizte mich, hoffte ich doch, genau in dieser Reflektionsphase nun endlich - und dann wohl auch hoffentlich ein für alle Mal - den heiligen Gral der Erkenntnis, der sich bisher so vehement vor mir versteckte, zu finden. Ich hatte ja damals überhaupt keine Ahnung davon, wer den schon alles erfolglos gesucht hatte und der Welt - wahrscheinlich aus blanker Verzweiflung heraus - irgendeinen billigen Becher als eben jenen Gral verkaufte. Eine große Hausarbeit und die mündliche Prüfung krönen das Ganze dann.
Außerdem verdiente man als Vikar schon Geld. Und zwar nicht zu knapp. Gut tausendsiebenhundert Mark winkten monatlich. Was also sollte ich, verdammt nochmal, tun? Auf der einen Seite wollte ich nicht in den kirchlichen Dienst. Die Vorstellung, für die Kirche zu arbeiten, roch mir einfach zu moderig und verursachte mir Übelkeit. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch den kleinen Nimmersatt an meiner Seite, den es zu füttern galt. Und ich musste ja auch von irgendetwas leben. Wissen allein ist dann doch ein karges Brot. Max steckte indes im gleichen Dilemma. Auch er wusste nicht so recht, was er tun sollte. Vikariat oder nicht? Knechtschaft in der Kirche oder Freiheit des Geistes? Tausendsiebenhundert Mark oder nix? Sekt oder Selters? Nach langen Diskussionen, tiefen Blicken in die Verborgenheiten unserer Seelen, nach unendlichen Gesprächen, Selbstprüfungen, Bestätigungen und erneutem Alles in Frage stellen, nach vielen Flaschen Rotwein entschieden wir uns für Sekt, obwohl uns beiden der Rotwein deutlich lieber gewesen wäre. Aber der war nun alle.
Ich erinnerte mich an meine Gespräche mit Edgår im Sommer vor meinem Studienbeginn. Vielleicht könnte ich die Kirche ja von innen her auf den Kopf stellen? Aus der Mitte des Systems heraus zerstörerisch wirken? Der Spaltpilz sein, der die heilige Mutter Kirche ins Wanken bringt, diese uralte, marode und moralinsaure Mutter. Das war doch damals mein Plan, meine Entschuldigung, mein Trost. Nun denn also, so sollte es nun sein.
Max trat eine Vikariatsstelle in der Nähe von Hamburg an, Da kam er her, dort lebte seine Frau. Ich konnte ihm diese Entscheidung nicht verübeln, obwohl ich es zunächst nach Kräften versuchte. Einen Versuch war es wert. Offensichtlich war ihm aber letzten Endes die Verlockung des heimischen Schoßes mehr wert als die Treue zu seinem Bruder. Seinem Bruder im Herrn oder im Trunke. Das durfte er sich aussuchen. Er ging. So ist der Mensch.
Ich blieb in Celle. Eine Arbeitergemeinde sollte meine neue Wirkungsstätte sein. Unkonventionell, modern, links. Genau wie mein neuer "Vater". Gerd. Der war auch links. Ganz weit links. Und er liebte Rotwein. Wenigstens das.
Ich war Vikar. Ich wusste zwar noch nicht genau, wie sich das für mich anfühlte, aber nun war es so. Und ich hatte auch gar keine Ahnung davon, wie ich das alles unter einen Hut bringen sollte. Die neue Arbeit im Reich des Bösen, das Kind, mein Sexualleben, den Haushalt. Aber irgendwie würde ich das schon schaffen. Vor allem mein Sexualleben war anstrengend. Ich hatte ja keine Freundin. Ich wollte auch keine. Ich fand Frauen ja doof. Aber ich wollte ein Sexualleben. Da die Erfüllung dieses Wunsches nicht zuhause auf mich wartete, musste ich also los. Und das war anstrengend, zumal meine Jagd nicht mit meiner neuen Rolle als heiliger Mann kollidieren durfte. Auf gar keinen Fall durften die Frauen aus heimischen Gewässern stammen. Ich musste also im Trüben fischen, irgendwo, draußen in den Weiten der Weltmeere, weitab der mir nun heimatlichen Gemeinde. Das war die Angelordnung. Die Kirche verstand unter Menschenfischer wahrscheinlich etwas Anderes. Ich engagierte regelmäßig einen Babysitter, der sich um Paul kümmerte, wenn es in mir mal wieder zum Fischzug blies. Irgendwie hat das jedenfalls immer funktioniert. Ich kriegte das alles hin. Es lief besser als gedacht und ich vikariierte und schlawinerte so fröhlich vor mich hin. Außerdem hatte ich Kontakte zu einem Schwesternwohnheim des Krankenhauses Burgwedel. Mein lieber Scholli. Da lernte ich, was es heißt, Privatpatient zu sein. Das Leben war schön. Bis mich ein Anruf erreichte.
Ich war vielleicht vier Wochen im Job, hatte organisatorisch alles so einigermaßen auf der Reihe, fummelte mich so allmählich in diese komische kirchliche Arbeit hinein und fand sogar Gefallen daran. Mit Gott konnte ich immer noch nichts anfangen. Aber ich konnte gut mit Menschen. Das konnte ich schon immer. Ich hatte in meinem jungen Leben schon so Manchem die Beichte abgenommen. Irgendwie hatte ich wohl ziemlich große Ohren. Ich konnte wirklich gut zuhören, ich konnte, je nach Situation verständnisvoll, mitleidsvoll, vorwurfsvoll oder einfach erstaunt gucken, und selbst das Schreiben von Predigten und Reden ging mir flott von der Hand. Und ich verstand mich gut mit Gerd, meinem neuen linken Interimsvater. Wir hatten viel Spaß miteinander. Nur vor dem Betreten des Kirchenkreisamtes musste ich immer noch - zur Sicherheit - ein Kreuz schlagen. Alles Amtskirchliche machte mir immer noch irgendwie Angst. Aber dahin hatte ich, zum Glück, nur selten Kontakt. Ja, wider Erwarten machte mir mein Vikariat Freude. Hätte ich mir nie vorstellen können. Ich konnte mir ja so Einiges nicht vorstellen. Und was ich mir vorstellen konnte, das stellte ich mir eben oft so einfach vor.
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