Braun hatte das mal in alten Filmen gesehen. Da rannten Leute durch eine Landschaft, die ein Bühnenbildner der amerikanischen Traumfabrik erstellt haben könnte und schossen auf Pappkameraden. Wenn sie allerdings den armen, alten Herren von Gegenüber, oder den lieben Kleinen von Nebenan trafen, bekamen sie einen Anschiss vom Trainingsleiter. Offiziell und vor der Kamera, im Originalton. Dann wies der Sprecher noch auf die große Verantwortung der FBI- Beamten hin, die doch alle dem Wohle des amerikanischen Volkes dienten. ‚March of Time‘ hießen die Filmwerke, mit Durchhaltemusik und Durchhalteparolen. Gegen den Feind, der zuerst Japanisch, dann nationalsozialistisch und später kommunistisch war und der die Welt verändern wollte. So sagte der Sprecher. Die Filme waren alt. Inzwischen hatten sich zwar die Zeiten geändert, der Feind aber wohl nicht, allen Ansprachen und Sonntagsreden der Politiker zum Trotz.
Im Hintergrund machte sich ein Mann bereit. Braun hatte sich schon oft gefragt warum Kommandos beim Bundesgrenzschutz immer so martialisch aussahen. Von dem Mann sahen sie nur die Augen und die Hände. Das Gesicht hatte er geschwärzt, die Hände hatte er vergessen. Wäre er nun tatsächlich im Einsatz, wäre er schon fast tot, schoss es Braun durch den Kopf. Dann erklärte er sich für verrückt. Warum musste er das Spiel jetzt auch schon im Kopf mitmachen. Mitmachen bedeutet, das Problem zu akzeptieren. Akzeptanz erschwert die Gegenwehr. Gegenwehr war nötig gegen Militarismus und gegen... Er schloss den Gedanken ab, denn das Denken in Schablonen ist ebenso schwachsinnig wie das Akzeptieren. Aber er war im Moment auch nicht besonders fit.
„Vor nicht allzu langer Zeit, so rund zehn Jahre ist das her, da entwickelte die CIA eine neue Lerntechnik. Übrigens stammt die Grundidee von Dr. Losanow vom Institut für Suggestologie und Parapsychologie in Sofia, Bulgarien. Der Ostblock ist uns da ziemlich voraus, na ja, die forschen ja auch schon länger daran herum. Die CIA also hat dieses, auch unter Superlearning bekanntes Phänomen, ausgebaut. Mit Hilfe von Licht und Tonsignalen, computergesteuert versteht sich, lassen sich Menschen auf so ziemlich alles konditionieren, was einem einfallen kann. Und lernen können Sie auch so. Übrigens, in Frankfurt, können Sie das sogar als Privatmann bekommen. Computermeditation nennt sich das dann. Die Technik ist die gleiche, nur der Aufkleber des Paketes ist halt ein anderer.
Warum aber erzähle ich Ihnen das alles? Ganz einfach, es ist das, was Sie wissen wollen. Diese geheime Anlage hier trainiert unsere Leute. Hier werden sie für den Einsatz bei terroristischen Überfällen ausgebildet, Bankraub, Geiselnahme, Flugzeugentführungen. Hier können sie trainieren, Reaktionen konditionieren. Denn, wer in diesem Job lange nachdenkt, der ist schon tot. Er weiß es jetzt bloß noch nicht. Also, wir bezeichnen das alles hier als den Simulator gegen den Terror. Und das werden wir Ihnen jetzt zeigen.
Wenn Sie aber so spektakuläre Bilder erwarten wie auf Ihrer Kirmes, dann muss ich Sie enttäuschen. Wir arbeiten nicht mit Holographie und solch aufwendigem Kram, wir sind schließlich kein Unterhaltungsunternehmer und unsere Kunden bezahlen keinen Eintritt. Sehen Sie hier: Unsere Kandidaten setzen sich diesen Helm auf. Auf der Innenseite befindet sich ein Schirm, den Sie auch von den modernen Flachbildschirmen kennen. Unser Mann sieht darauf seine vermeintliche Umgebung, also das, was der Computer ihm als Umfeld anbietet. Dreht sich unser Mann, verändert sich natürlich sein Blickfeld. Und die Schwierigkeiten, die ihm begegnen sollen, die programmieren wir ihm schon ein. Dieses kleine Kästchen wird über Sonden mit seinem Körper verbunden. Herzschlag, Transpiration, Blutdruck, Leitfähigkeit der Haut und so weiter. Sie kennen das vom Elektrokardiogramm bei Ihrem Hausarzt. So, wir wollen mal hochgehen, in die Zentrale, da zeige ich Ihnen das Gegenstück.“
Der Blick aus dem Kontrollfenster ist eher langweilig. Unten steht ein Mann in schwarzem Trainingsanzug, der Kopf vollständig vom glänzenden Helm verborgen. Der Lautsprecher am Kontrollpult überträgt seine Stimme, seinen keuchenden Atem. Der Raum unten ist, bis auf den Mann, völlig leer. Auf dem Rundummonitor hier oben kann das Team sowohl das aufnehmen, was der Mann unten sieht, als auch das, was nicht in seinem Blickfeld ist. Hier oben sitzen die Herren des Geschehens, der Mann unten ist lediglich der Akteur, die Marionette am Datendraht.
Es sieht schon merkwürdig aus, wenn er über den Platz rennt, Haken schlägt, sich plötzlich ergebende Schrägen emporklimmt. Der Boden muss rollbar sein, denn der Mann verlässt kaum die Mitte, findet sich immer im Zentrum wieder. Auf dem Rundummonitor werden seine Aktionen erklärt. Da stehen Laternen im Weg, Treppen türmen sich vor ihm auf, Passanten laufen um ihn herum. Wenn er los rennt verändert sich auch der Horizont. Besonders markiert ist der Bereich, der von ihm einzusehen ist. Das Programm schreibt vor, einen anderen Mann, der möglicherweise bewaffnet ist, zu verfolgen. Von ihm kann angenommen werden, er wolle einen Dritten töten. Sicher ist dabei allerdings nichts, auch nicht, ob er alleine arbeitet oder mit anderen zusammen. Die Schwierigkeiten werden über ein besonderes Terminal eingegeben. Der Zufall liegt in der Hand des Trainers. Zufälligkeiten werden programmierbar, abhängig von der Willkür Einzelner. Terrorbekämpfung im Dienste des Staates.
Sie werden auf weitere Monitore hingewiesen. Puls, Angstzustände, Schweiß, Atem.
„Wir können auf diesem Wege natürlich auch die Kondition der Leute prüfen. Wer da Defizite hat wird ausgesondert, zu weiterem Training geschickt. Und dann haben wir natürlich neben dem physischen Training noch das mentale. Die Leute sollen ja schließlich funktionieren. Und sie sollen überleben. Wir schicken niemanden bewusst in sein Verderben. Das kann ich als Familienvater auch überhaupt nicht verantworten. Sehen Sie, dem Mann da unten geht schon ganz schön der Atem. Aber jetzt wollen wir ihm mal ein bisschen Dampf machen. Müller!“
Es war das erste Mal heute Abend, dass jemand mit seinem Namen angeredet wurde, dem Chef gingen anscheinend die Pferde durch.
„Müller, wie gut ist der Mann noch drauf?“
„Gute Kondition, er bräuchte im Moment nur mal ein paar Sekunden Pause, Herr...“
Müller verkniff sich den Namen seines Vorgesetzten.
„O.K., gönnen Sie ihm 15 Sekunden und dann wird er angegriffen, von drei Männern gleichzeitig und außerdem,“ der Chef lächelte ein barbarisches Lächeln, „vorher zeigen Sie ihm noch mal eine schöne Frau, zur Abwechslung. Mal sehen ob er drauf reinfällt.“
„Bestimmt nicht, Chef. Das kennt der. Immer wenn ihm Frauen im Training vor der Nase vorbeilaufen, dann weiß er: Gleich kommt’s ganz dick. Ich würde davon abraten.“
„Akzeptiert, steht das Programm?“ Er sah sich zum Computerspezialisten um, einem dürren, bebrillten Männchen, der auf seinen Tastaturen herum hämmerte. Der nickte nur. Und dann fing das neue Programm an.
Man darf nicht in den Saal sehen, dort ist das Geschehen lediglich lächerlich, aber auf dem Rundummonitor im Kontrollraum ist das Drama deutlich zu sehen. Das Blickfeld, das der Mann unten einsehen kann, rot umrandet. Das Bild bleibt stehen, aber das Oval des Sehens huscht hin und her. Die Geschwindigkeit des Wechsels des Blickfeldes steht in direktem Zusammenhang mit dem Erregungszustand des Mannes. Angst macht mobil. Ein Spiel ist das hier nicht mehr. Keuchender Atem, der Pulsschlag. Dokumentiert in den Pieptönen des Kontrollgerätes. Dazwischen Computerstimmen wie in einem Flugzeugcockpit, die zu hohe oder zu niedrige Werte anmahnen. Puls zu hoch, Transpiration zu hoch, Augenbewegungen zu schnell, Blutdruck bei weitem zu hoch. Stress-Symptome. Alles ist zu hoch. Der Computer verarbeitet die medizinischen Daten, schätzt Belastungsphänomene ein, rechnet Belastungstoleranzen aus. Eingeteilt in Zahlen zwischen Null und einhundert. Rechnerisch tritt bei Einhundert der Tod ein. Aber unter Stress verträgt der Mensch mehr als der Computer annimmt, vielleicht einhundertzwanzig oder mehr. Ausprobiert hat das bis zum Extrem bisher niemand. Wer sollte auch die Todesmeldung schreiben.
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