Wenn hinter dem Projekt A.SI.AN, von dem der betrunkene Verkaufsleiter erschreckt und der nüchterne so begeistert war, allerdings eine spannende Geschichte, vielleicht sogar ein Skandal steckte, eine große Geschäftemacherei oder ein psychologisch übler Trick, dann müsste der Sender die Geschichte produzieren. Aber wie war das noch? Die Macht des Fernsehens beschränkt sich im Wesentlichen auf Unwesentliches. Beschränkung als Selbstschutz. Deshalb funktionierte das System. Ganz von alleine.
Manchmal ist es günstiger auf Nebenkriegsschauplätze auszuweichen. Die Redaktionen waren unlustig an das Thema heranzugehen. Die Verwaltung scheute die Kosten. Möglicherweise hatte die Hierarchie Angst vor Ärger. Aber der Programmdirektor hatte sich noch nicht entschieden. Es bestand immer noch eine Hoffnung. Also hieß es zumindest einen scheinbaren Knüller nachzuschieben.
Die Informationsquellen standen offen. Die japanische TEC.TO.N, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, an der Börse unter der Mutter Aktiengesellschaft NIPPON-SAN Enterprises gehandelt, musste europäische Töchter haben. Braun setzte sich an den Archivcomputer. Es war schon merkwürdig wie weit diese Dinger Einzug in das alltägliche Leben gehalten hatten. Im Branchenregister war überhaupt nichts zu finden. Nippon-San war nirgends verzeichnet. Also galt es auf anderem Wege weiterzukommen. Das Zeitschriftenarchiv war schon eine bessere Adresse. Zwar waren im Computer nur Schlagworte verzeichnet, aber auch Quellen waren zu finden. Die Zeitungen und Zeitschriften standen alle, säuberlich geordnet nach Datum und Themen im Zeitschriftenarchiv. Zuerst gab es natürlich auch da Schwierigkeiten. Eingabe: Nippon-San. Ergebnis: Lediglich ein Dokument. Zu finden in einer Zeitschrift für Geldinvestitionen. Er ging rüber ins Zeitschriftenarchiv. Um die dauernde Rennerei nicht zu haben, bat er das Mädchen von der Registratur um einen der Plätze an den Terminals. Ohne von der Arbeit aufzusehen murmelte sie ihre Zustimmung. Heute war nicht viel los.
Die Ausgabe der Zeitschrift war schnell gefunden. Es war nur ein kleiner Artikel. Wenige Zeilen. Aber nicht uninteressant: „… hat der japanische Nippon-San Konzern erwogen in der Bundesrepublik eine Zweigfirma zu eröffnen. Der Mischkonzern wird sich mit der neuzugründenden Tochter auf dem Elektronikmarkt vertreten lassen. Die Geschäftsleitung...“
Leider war kein Firmenname genannt, unter dem die neue Tochter aufzutreiben gewesen wäre. Weiter unten wurde aber angedeutet, dass internationale Banken daran interessiert sein könnten, von Hongkong nach Frankfurt umzusiedeln. Auch die Nippon-Saneigene Bank, ein Institut mit dem phantasievollen Namen ‚Trade Bank of Tokio‘, dächte bereits über Frankfurt nach. Braun wagte nun den verwegenen Schluss, dass, quasi als Vorausunternehmen, auch die Tochter nach Frankfurt kommen könnte. Oder in die Umgebung von Frankfurt. Wie aber sollte man eine Firma finden, deren Namen man nicht kannte?
Hier konnte vielleicht das Jahrbuch der Frankfurter Industrie und Handelskammer hilfreich sein. Leider war der Band des vergangenen Jahres noch nicht im Rechner. Das hätte vieles vereinfacht. In der Kammer selbst anzurufen wagte der Autor nicht, denn man soll keine schlafenden Hunde wecken. Also hieß es blättern. Es ist schon schlimm, wenn man etwas sucht und nicht weiß, was.
Im Anhang standen die Neuzugänge. Es waren über vierhundert. Zu viele. Im Buch lag noch das kleine Heftchen mit der Aufstellung der Pressestellen der Firmen. Es war schon ein Wunder, dass bisher noch keine Redaktion die Blätter geklaut hatte. Er unterdrückte die Regung sie einzustecken und fing an zu blättern. Nippon-San existierte nicht. Elektronikunternehmen waren zuhauf da. Es war schon ein blödes Spiel.
Er holte sich einen Kaffee in der Kantine, einen transportablen im Plastikbecher, dazu einen sogenannten ‚Stresskolben‘, ein belegtes Baguette. Die normale Speise arbeitender Reporter, die vom Telefon nicht wegkamen. Mit Kaffee und Brot konnte er allerdings nicht ins Archiv zurück, fiel ihm im Aufzug ein. Also fuhr er wieder eine Etage höher und ging ins Reporterzimmer. Dort stellte er fest, dass er das Heft mit der Aufstellung der Pressestellen doch mitgenommen hatte. Aus Versehen versteht sich. Mit dem innerlichen Versprechen, es baldmöglichst wieder zurückzubringen, griff er zum Telefon. Man soll Konkurrenz nicht unterschätzen und Futterneid kann sehr nützlich sein. Seinen Gesprächspartner kannte er von vielen Berichten und einigen Dienstbesäufnissen. Es war der Pressechef eines großen deutschen Elektronikkonzerns, Regionalverwaltung Frankfurt:
„Wie war denn die Pressekonferenz Ihrer Firma gestern Abend? Ich konnte leider nicht kommen.“ „Macht nichts, Sie haben nichts versäumt, Meiritz war da, hat die üblichen Fragen gestellt, und gelaufen ist bei Ihnen natürlich nichts.“
Es war das übliche Vorgeplänkel, die Spielregeln kannten beide. Nach der allgemein gültigen Vorlaufzeit kamen sie dann zur Sache: „Wie groß wird die japanische Konkurrenz? Wer ist schon da?“ Der Pressechef stöhnte auf. Die Ausländer und da besonders die Japaner, lagen ihm wohl schwer auf der Seele. Das Leben sei schon schwer, meinte er und zündete sich lautstark eine Zigarette an. Und es werde immer schwerer. Dann zählte er verschiedene Firmen auf, die Braun schon kannte und von denen er wusste, dass die Nippon-San nicht dahinterstecken konnte. Also galt es vorsichtig nachzuhelfen.
„Die Trade Bank of Tokio soll ja jetzt auch in den deutschen Elektronikmarkt investieren. Tangiert das Ihren Konzern?“
Der Pressechef war verunsichert, mit der Information konnte er im Moment nichts anfangen. Was wollte der Kerl damit sagen?
„Hab ich aus der Fachpresse, steht in einer der letzten Nummern. Da kann man sich natürlich denken wer dahintersteckt, die wollen euch jetzt kräftig einheizen.“ Der Pressemann des Konzerns kannte den Artikel auch nicht, deshalb verstand er den Reporter immer noch nicht:
„Na ja, einheizen wollen die uns alle. Aber wir werden uns zu wehren wissen!“
Mein Gott, dachte Braun, der Kerl kapiert aber auch gar nichts, oder wollte er nichts kapieren. Also musste er zum Frontalangriff ansetzen. Auch wenn die Presseabteilung des Konzerns misstrauisch werden sollte.
„Übrigens, was ganz Anderes. Es ist zwar nur ein Gerücht, aber ich habe im Presseclub gehört, dass Ihr Konzern auf dem deutschen Markt mit Nippon-San fusionieren will. Wehren Sie sich jetzt mit Fusionen und Kartellen?“
Die Behauptung war völlig schwachsinnig, weder Nippon-San, noch der deutsche Konzern hatten jemals irgendwelche gemeinsamen Pläne gehabt. Aber ihm war nichts Besseres eingefallen. Der Pressechef fing an zu lachen.
„Lieber Herr Braun! Wenn Ihre Kollegen von Hochzeiten reden, dann müssen sie aber schon sehr besoffen sein. Sie sollten nicht auch noch unter die Kuppler gehen. Es ist richtig, Nippon-San steigt in den europäischen Elektronikmarkt ein. In Walldorf sitzt seit ungefähr sechs Monaten die ‚Versuchs Audio Video‘. Die ist Nippon-San. Aber das ist doch nur eine Bonsaifirma. Außerdem arbeiten die nur für den militärischen Markt, oder, sie wollen das zumindest. Das ist keine Konkurrenz. Die Aufträge vergeben die Amerikaner und ob diese kleine Firma da reinkommt? Wir auf jeden Fall sind im Markt....“ Das Gespräch dauerte einige Zeit. Braun hatte seine Information. Beiläufig, empfunden als Dementi auf eine unvernünftige Behauptung. Damit es beiläufig blieb, musste halt noch ein wenig geredet werde. So einfach ist das.
Auf dem deutschen Markt rangierte sie also unter dem unauffälligen Namen ‚Versuchs Audio Video KG‘. Der Hauptsitz fand sich in einem kleinen Ort bei Frankfurt, Walldorf-Mörfelden, Ausgangspunkt der Demonstrationen gegen den Neubau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Im Handelsregister war die Firma natürlich eingetragen. Geschäftsgegenstand laut telefonischer Auskunft beim Amtsgericht Frankfurt, Abteilung Register: Herstellung und Vertrieb von Hard und Software. Kapitaleigner: Zu 100% Nippon-San, Tokio. Weitergereicht von der Industrie und Handelskammer Frankfurt an die Deutsch- Japanische Handelskammer, ebenfalls Frankfurt, versicherte ihm die Dame am Telefon: Selbstverständlich hätten sie Unterlagen über die Versuchs Audio Video. Schließlich sei dies die Tochter der mächtigen Nippo-San-Gesellschaft. Braun stöhnte. Auf die Idee mit der Deutsch Japanischen Handelskammer hätte er auch früher kommen können. Jetzt wäre er schon zu Hause. Ob er die Unterlagen heute schon brauche, fragte die Dame, oder ob sie geschickt werden sollten? Das Mädchen war wirklich sehr bemüht. Der Spätfahrer des Senders bekam den Auftrag bei der Kammer vorbeizufahren. Braun ging solange in die Kantine. Das Mittagessen war nachzuholen.
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