Er hatte völlig vergessen, dass die Kamera lief, hatte sich in Rage geredet, mehr von seinen Wünschen gesprochen als von Realitäten. Draußen aber lief bereits die andere Realität. Der Einlass für Erwachsene und Kinder hatte begonnen, Eintritt fünfzehn Mark, Kinder acht. Qualität hatte auch 1996 ihren Preis, Attraktionen besonders.
Während sich das Licht im Zelt verdunkelte, stiegen sie die Treppe zum Kontrollcontainer hinauf. Sie müssten sich nicht hetzten, meinte der Vertreter der TEC.TO.N, heute sei das Fernsehteam Hauptperson. Das war beruhigend, denn es braucht halt seine Zeit die Gerätschaft aufzubauen.
Im Rechner war ‚Katastrophe‘ programmiert. Bombenkrieg live. Im großen Raum unten, zwischen Sitzgelegenheiten, umgeben von Projektionswänden für computergesteuerte Videobilder, versammelte sich das abenteuerlustige Publikum. Erwachsene und Kinder, Reiche und Arme, Männer, Frauen. Noch war das Programm nicht in Gang gesetzt. Die Vorstellung hatte noch nicht begonnen. Oben, unter der Zeltdecke, abgeschlossen von schallschluckenden Fenstern, die Zentrale: „Dies hier ist quasi der Kommandostand des Schiffes. Von hier aus werden die Programme gesteuert. Außerdem müssen wir auch das Publikum beobachten, denn wir machen Katastrophen so lebensecht, dass bisweilen schon mal jemand umfällt. Das darf allerdings nicht zu häufig vorkommen, sonst bleiben uns die Leute weg.
Sehen Sie hier auf den Kontrollmonitoren: An diesen Daten können Sie ersehen wie stark der Krieg gleich werden soll. Nachmittags und am frühen Abend, also, wenn Kinder und Familienväter da sind, fahren wir natürlich nur ein kleines Programm. Alles wird von uns ein bisschen harmloser gemacht. Außerdem schont das die Hydraulik unter dem Boden. Damit können wir die Besucher so richtig schön durchschütteln. Sie kennen das bestimmt von Flugsimulatoren: Das Programm ist ganz lebensecht. Abends geht natürlich die Post ab, da fahren wir unsere Möglichkeiten voll aus. Und jetzt passen Sie auf. Wir starten den Rechner!“
Auf den Monitoren waren zunächst nur Zahlen zu sehen. Der Operator lächelte sie milde an und meinte danach, „Mathematik ist fürs Fernsehen wohl zu abstrakt.“ Er könne auch Kurven liefern: Spannungskurven, Lautstärkekurven, Bewegungskurven der Hydraulik. Zum Nachmittagsprogramm läge die Einstellung zwischen 30 und 40 Prozent. Die harmlose Fassung.
Auch graphische Darstellungen des Geschehens waren in der Kontrolle zu finden. Auf extra Monitoren wurden immer die folgenden Bilder schematisch angezeigt. Die Kontrollinstrumente für Stromversorgung, Mechanik, Holographie und Laser waren übersichtlich in die Wand eingebaut. Vorausgesetzt, man kannte die Anlage. Das Kontrollpanel hätte auch in einem Kraftwerk stehen können oder in einem Raumfahrtzentrum. Technisch kühl, ergonomisch geordnet. In der Mitte der Notschalter, das ‚Sofortaus‘, Entsprechend den Vorschriften der technischen Überwachung.
Die Autoren des Schreckens hatten ihr Handwerk beherrscht.
Auf den Projektionswänden zeigen sich die Bilder einer großen Stadt. London ist es. Aber die Bilder sind bereits älter, zeigen die Metropole in den vierziger Jahren. 1943 schätzte der Kameramann, er war der Älteste im Team. Merkwürdig braun/ weiße Farbtöne, erinnerten an vergilbte Fotografien. Eine beruhigende Stimme rät den Besuchern in der Mitte Platz zu nehmen, weiche Polsterquader laden zum Sitzen ein. Dann, langsam gleitet die projizierte Umgebung in die Nacht, umgibt den inneren Raum ein abschwellendes Licht mit einem Käfig, Halluzination aus Licht, Holographie. Und die Besucher mitten drin. Die Szene gleicht jetzt der Fahrt mit einem Autobus durch das nächtliche London des zweiten Weltkrieges. Der Boden beginnt im Rhythmus der Fahrt zu holpern, Fahrgeräusche schwellen an, die Illusion wird perfekt. Ein leibhaftiger Schaffner geht durch den vermeintlichen Bus und fragt, wer noch Fahrkarten benötige. Auf Englisch, mit Cogny-Akzent. Er ruft Stationen aus. Der Bus hält, fährt wieder an. Oxford Circus, rechts gleitet die Hannover Street vorbei. Passanten huschen durch abgedunkelte Straßen, draußen, um den Bus herum. Maddox Street. Die Fahrt geht durch die Innenstadt, zum Piccadilly Circus. Die Stecke der Bakerloo-Line, einer Buslinie Londons. Vorne eine Verkehrsstockung, Taxis stehen quer, eine Bobby pfeift, Leute schimpfen draußen. Rechts die New Burlington Street. Links eine Kirche. Das Tor ist geöffnet. Gläubige strömen auf die Straße. Erst jetzt fällt auf, dass die Bilder farbig geworden sind, fahl im leichten Londoner Nebel. Dunst unter den Laternen, reflektiert im Scheinwerferlicht der Automobile. Links geht die Glasshouse Street ab zum feudalen Regent Palace Hotel. Jeder kann die vorfahrenden Taxen sehen, Menschen, die ein und aussteigen, uniformierte Portiers, die Wagenschläge aufreißen. Die Regent Street hat hier eine Biegung nach links, dann kommt der Piccadilly Circus, der aufregendste Ort Londons. Links auch die große, haushohe Coca-Cola Leuchtreklame. In der Mitte der Brunnen. Drumherum der Linksverkehr. U-Bahn Schilder.
Mit der Luftschutzsirene hatte keiner gerechnet. Sie heult unvermittelt los. Der Bus stoppt abrupt. Der Schaffner schreit Unverständliches und stürzt sich aus dem Wagen aus Holographie. Draußen rennen Menschen in U Bahnschächte, Hauseingänge. Das Sirenengeheul vermischt sich mit dem dumpfen, drohenden Brummen propellergetriebener Bomber. Niemandem ist aufgefallen, dass der Bus verschwunden ist. Oder sind alle ausgestiegen? Bomben fallen. Zuerst hört man nur ihr Pfeifen. Ein ekelhaftes, drohendes, zynisches Geräusch. „Wir kommen, wir kommen!“ Rechts und links Detonationen. Steinbrocken fliegen über die Köpfe. Schlagen irgendwo auf. Spritzen Schrapnells über das Pflaster. Leute schreien in Panik. Rufen um Hilfe. Zeigen Angst. Stimmen der Illusion oder die Eigene? Gegenüber ist ein Feuer ausgebrochen, die Hitze strahlt herüber, Brandbomben, es stinkt nach Qualm, nach Pulver, nach Phosphor. Die Erde erzittert unter Detonationen, die Luft ist erschüttert vom Krachen zusammenstürzender Mauern. Und die Luftschutzsirene zersägt das Inferno mit kreischendem Laut.
„Die perfekte Illusion.Teuer, aber perfekt.“
Was hatte der alerte Vertreter der Unterhaltungsfirma zu Beginn des Interviews doch gesagt? "
„Angstlust!“ „Ein Markt mit Zukunft!“ „Ein elektronisch- optisch- psychologisch zu meisterndes Phänomen!“
Krieg im Erlebnispark. Tötung als Massenschauspiel. Völkermord auf dem Abenteuerspielplatz. Freigegeben für Kinder und Erwachsene.
Aber wie war das doch? Braun denkt nach: „Senden wir, die wir Fernsehen machen, jedem Kind zwischen dem dritten und dem sechzehnten Lebensjahr nicht rund achtzigtausend Morde ins Wohnzimmer? Nur damit sich unsere Werbung besser verkauft? Ein Zyniker, der da wehklagend den Finger heben will.“ Sein Honorar, der monatliche Scheck ist abhängig auch vom Tod auf der Mattscheibe. Der Reporter ist sich seiner Rolle nicht mehr sicher. Und wie viele Kunden erreicht schon eine noch so perfekte Abenteuersimulationsanlage?
„Dreihundertsechzigtausend im Jahr, zumindest peilen wir dies mit dieser Anlage an. Aber sie ist erst der Prototyp. Später müssen es schon mehr sein. Allein wegen der Rendite.“
Der Verkaufsleiter lacht.
„Die Zielgruppe ist im Moment noch etwas diffus. Im Ausland, ja im Ausland sind wir da schon wesentlich weiter. In England, in Japan, in Südamerika. Da sind die Ressentiments gegen solche Erlebnisanlagen bei weitem nicht so groß.“
Die Leute stolpern aus dem Zelt. Fragen an die Besucher: Sie sind begeistert: Alles sei so realistisch, fast lebensecht. Wenn sie nicht gewusst hätten es sei nur ein Spiel, sie hätten tatsächlich Angst bekommen. Fragen an die Kinder: Hattet ihr Angst? Die Großmäuligen antworten mit „Nein“, spreizen stämmig die Beine, schielen zu ihren Eltern. Mutige Kinder. Viel besser als im Fernsehen sei es, wegen des Qualms und der Erschütterungen. Und wie fein die Bomben auf den Platz gekracht seien. So richtig stark, geil eben.
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