Alfred Lehmann ging noch das siebte Mal mit den schicksalsschweren Gedanken des Zusammenbruchs des Sozialismus und der bürgerlichen Revolution um den ‘Platz der Revolution’ und bog in die Rosa-Luxemburg-Straße ab, um bei Frau Speer, der nicht mehr jungen blassgesichtigen Sprechstundenhilfe von Dr. Brettschneider das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen. Es war früher Nachmittag, als er die Baskenmütze vom Kopf zog und mehrere Male gegen den nassen Regenmantel schlug, die Praxistür öffnete und hinter sich schloss und die wenigen Schritte bis zum schmalen Tisch machte, hinter dem Frau Speer saß und wie am Morgen in der Kladde vor- und zurückblätterte. Sie sah mit ihren fad-blauen Augen hoch: “Sie kommen aber früh. Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Herr Doktor kam erst spät aus der Poliklinik zurück und muss das Rezept noch schreiben.” Alfred Lehmann: “Dann fragen Sie den Arzt, ob nicht neue Röntgenbilder in Anbetracht der zunehmenden Rückenschmerzen angebracht wären und ob er mich zu einem Spezialisten überweisen würde.” Er nahm im Wartezimmer, in dem er der einzige wartende Patient war, Platz und machte sich seine Gedanken über den Morgen und die Republik. Es dauerte länger, als Frau Speer aus dem Sprechzimmer zurückkam und sich hinter ihren schmalen Tisch setzte und Alfred Lehmann aus dem Wartezimmer rief: “Hier ist ihr Rezept. Ich habe Herrn Doktor ihre Fragen gestellt. Er sagte, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, da keine Wunder zu erwarten sind. In punkto Spezialist sagte Herr Doktor, dass ihrer Wirbelsäule nicht mehr zu helfen sei als die Schmerzen mit Schmerztabletten unter Kontrolle zu bringen. Sie werden verstehen, dass ich nicht mehr für Sie tun kann.” Sie überreichte das Rezept mit ausdruckslosem Gesicht, und Alfred Lehmann verließ die Praxis enttäuscht, dass der Arzt bei leerem Wartezimmer sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, ihn und seinen Rücken zu untersuchen.
Es rüttelt und schlägt ans Gittertor der Pforte,
das aus Eisen geschmiedet ist.
Haus und Scheune sind verschwunden, dazwischen lag der Krieg mit seinen Wunden.
Du weißt, die Pforte kann verschlossen sein,
dann ist der dicke Riegel vorgeschoben.
Durch die Nächte schlug es an den Riegel hart,
dass an Schlaf nicht mehr zu denken war.
Trifft der Morgenblick die Morgenblume,
dann ist sie die Mahnesrune im harschen Wetterbruch.
Denn nicht alles steht, was stehen soll und ohne Tuch
nach durchkämpfter Nacht in Traum und Wirklichkeit.
Schwer liegt das Schweigen auf der Brust,
noch schwerer wiegt der Morgen,
wenn zu den ganz normalen Alltagssorgen
das Wort des Abschieds über deine Lippen kommt.
Du schautest zurück in letzte Stunden,
gabst weiten Raum der stillen Sehnsucht letzte Runden
mit dem Wunsch nach Frieden dieser Zeit.
Er schloss die Praxistür von draußen, setzte sich die abgegriffene schwarze Baskenmütze auf den Kopf und ging zur nächsten Apotheke in der Weidemann-Straße, einer Nebenstraße der Rosa Luxemburg-Straße. Apotheker Traunicht, ein untersetzter Herr jenseits der Mitte der Lebensjahre mit blassem Gesicht und schütterem grauen Haar nahm das Rezept entgegen, ging zu den Regalen und füllte einen kleinen Plastikbehälter mit Tabletten, die er auf einem Tablett vorher abgezählt hatte. “Das sind ihre Tabletten”, sagte Herr Traunicht, als er den halb gefüllten Plastikbehälter auf die Theke stellte und den herabgesetzten Rentnerbetrag verlangte. Alfred Lehmann zahlte den Betrag, und Herr Traunicht gab das Wechselgeld heraus und fragte, wie es sich mit den Rückenschmerzen verhalte. “Die werden von Monat zu Monat stärker”, antwortete Alfred Lehmann. “Dann soll Sie ihr Arzt zu einem Spezialisten überweisen”, sagte Herr Traunicht. “Das habe ich die Sprechstundenhilfe auch gefragt, die die Frage an den Arzt weitergegeben hat”, erwiderte Alfred Lehmann. Der Apotheker: “Das verstehe ich nicht. Warum haben Sie die Frage nicht selbst an ihren Arzt gerichtet?” Alfred Lehmann: “Weil der für mich keine Zeit hatte oder sich keine Zeit nahm.” Der Apotheker: “Das sind schon komische Zustände, dass sich ein Arzt für einen Patienten, auch wenn er ein Rentner ist, keine Zeit nimmt.” Alfred Lehmann: “Der Arzt ließ durch die Sprechstundenhilfe sagen, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, obwohl die letzten Aufnahmen zwei Jahre alt sind, und dass meiner Wirbelsäule auch durch einen Spezialisten nicht mehr zu helfen sei. Ich müsse die Rückenschmerzen mit Schmerztabletten unter Kontrolle halten.” Apotheker Traunicht machte ein ernstes Gesicht, als wollte er sich für das schlechte Verhalten des Arztes entschuldigen: “Ich sage ihnen, unser Gesundheitssystem ist wie das ganze System mit dem guten Namen Sozialismus durch und durch verrottet. Das kann einfach nicht gut gehen. Das sage ich ihnen in aller Offenheit.”
Alfred Lehmann steckte den kleinen Plastikbehälter in die linke Manteltasche und verließ die Apotheke. Er machte sich auf den Heimweg zu seiner Dachwohnung im Altbau mit dem bröckelnden Grauputz am Schleusenweg 3. Er musste sich anstrengen, die schmale Treppe mit den muldig ausgetretenen Stufenplanken bis obenhin zu steigen. Der Rücken machte ihm starke Schmerzen, die in beide Lenden ausstrahlten und die Rückenmuskeln verspannten. Er zog den nassen grauen Mantel mit Mühe aus und hängte ihn an den Haken im kleinen Flur. Die abgegriffene schwarze Baskenmütze war noch auf dem Kopf, als Alfred Lehmann in der kleinen Mansardenküche ein Glas mit chlorrüchigem Leitungswasser füllte, zwei Schmerztabletten in den Mund steckte und mit dem Wasser aus dem Glas runterspülte. Er setzte sich an den kleinen Tisch im Wohnzimmer und stützte die Ellenbogen fest auf die Tischplatte, um die Wirbelsäule zu strecken, wobei er eine leichte Schmerzlinderung spürte. Der Spaziergang hatte ihn doch erschöpft, dass er nach einigen Minuten Ellenbogenstütze am Esstisch sich aufs Bett legte, wo ihm die Baskenmütze vom Kopf rutschte und er schließlich dem Schlaf der Erschöpfung verfiel. Es klingelte mehrere Male, bis Alfred Lehmann Stunden später erwachte. Kurt stand vor der Tür, was den Vater erstaunte nach Jahren ausgebliebener Besuche seines jüngeren Sohnes. Auch hatte Kurt dem Vater nur selten einen Brief geschickt, und das nicht xu jedem Geburtstag oder jeder Weihnacht. Kurt hängte seinen trockenen Uniformmantel eines Fregattenkapitäns der Volksarmee neben Vaters klammen grauen Mantel an den Haken und setzte sich an den kleinen Esstisch im beengten Wohnzimmer. Der Vater sah kurz aus dem Fenster, bevor er es schloss, und sah den schwarzen Volvo, den Wagen der gehobenen Luxusklasse für die hohen Offiziere und Funktionäre, unten vor dem Haus parken. Der Nieselregen dauerte an. Er fragte den Sohn, ob er allein gekommen sei, worauf Kurt sagte, dass der Fahrer im Wagen warten könne. Darauf setzte sich der Vater zum Sohn an den kleinen Esstisch.
Dem neuen Tag brennen die Augen entgegen,
macht schon das Gestern im Denken verlegen,
wie das Leben heute und morgen werden kann,
wenn nichts mehr steht, was hundert Jahre stand.
Aus der Dämmerung steigt das Licht in den Morgen,
wieviel mehr wär aus der Wahrheit in den Tag zu borgen,
um Fehler und Verfehlung von gestern zu meiden
und den Stolz zu spüren, wenn Tiere in Frieden weiden.
Es sollen Wiesen sein im frischen Morgentau,
dass sich junges Leben im Wohlbefinden stellt,
es sind die Tropfen an den Blättern und Gräsern,
sie fallen im All der Unschuld und rollen herab.
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