Max und Otto:
Das verstehen wir nur zu gut,
denn auch uns fehlen die Väter oder
Mütter, der Bruder oder die Schwester
und legen uns krumm, ihr seht’s an unsrer Magerkeit.
Wir hungern uns durch Tag und Wochen,
und sind Menschen wie du und er,
wir sind Asylanten im eigenen Land,
das ist dir Politiker doch lange bekannt.
Paul:
Wir sind hier, denn uns beißen die Hunde,
der Hunger schwächt uns mehr mit jeder Stunde,
dabei sind wir verwandt um wenige Ecken,
haben als Kinder geteilt das Brot und die Decken.
Die Nachbarhilfe, die gute, stand jedem zu,
Einer sorgte für den andern und dessen innere Ruh
ob bei Tage oder Nacht, stets hielt einer Wacht,
denn das Leben braucht den andern, das wohlbedacht.
Wer andern im Geheimen die Zunge raussteckt,
ist einer von den vielen, der nur an sich selber denkt
und den Mut nicht hat, über sich hinaus zu blicken,
um das Kind mit den großen Augen zu beglücken.
Alfred Lehmann verließ die Praxis, schloss die Praxistür und setzte sich die abgegriffene, nasse Baskenmütze, das kriegsweihnachtliche Geschenk seines Onkels Karl, wieder auf den Kopf. Der Regen nieselte weiter vor sich hin und nässte von neuem das Gesicht, dass er sich mit der bloßen Hand dann durch das Gesicht fuhr, wenn das Nass wie aus dem Kränchen von der Nase zu tropfen begann. Er machte noch einen Schlenker durch die Stadt und hatte sich vorgenommen, einen Bekannten in der Geschwister Scholl-Straße, einer kleinen Nebenstraße hinter dem ‘Platz der Revolution’ zu besuchen, den er vor einigen Jahren bei seinen Spaziergängen durch den kleinen Buchenwald außerhalb der Stadt kennengelernt hatte, als es mit dem Rücken noch besser ging. Der kleine Buchenwald hat seinen Namen behalten. Auf der rechts vom Weg zum Waldeingang aufgestellten Tafel von einer Größe von fünfzig mal fünfunddreißig Zentimetern stand geschrieben: “Im Gedenken der Opfer gegen den Nazi-Faschismus”. Alfred Lehmann wusste, dass der Bekannte so wie er selbst Mitglied der Partei mit dem ovalen Abzeichen mit dem Handschluss war und stellte sich daher auch die Frage, ob dieser Buchenwald spazierende Bekannte über die Parteimitgliedschaft hinaus noch weitere antifaschistische Horch-Aktivitäten betrieb, was aus den Gesprächen beim Nebeneinanderspazieren, die von seiner Seite deshalb behutsam geführt wurden, nicht herauszuhören waren. Er überquerte den ‘Platz der Revolution’, bog von der breiten ‘Straße des Widerstands’ in die dritte Nebenstraße, die Geschwister Scholl-Straße, links ab und blieb vor der Haustür mit der Nummer 17 und dem abblätternden fleckigen Grauputz stehen. Er drückte auf den Klingelknopf zum zweiten Obergeschoss und streifte mit der anderen Hand das Nass von der Baskenmütze. Er drückte das zweite Mal auf den Klingelknopf, als ein Fenster im zweiten Obergeschoss geöffnet wurde, und der Kopf von Otto Schulte mit dem grau-fahlen Gesicht eines gealterten Mannes mit schütterem Weißhaar und Stirnglatze von oben nach unten zum Hauseingang blickte.
“Ach Sie sind es, Lehmann. Ich drücke den Türöffner”, sagte Otto Schulte, zog den Kopf zurück, schloss das Fenster und drückte von oben den Türöffner. Alfred Lehmann schlug die nasse Baskenmütze einige Male gegen den Regenmantel, fuhr mit der Hand über das Haar und nasse Gesicht, legte die Haustür ins Schloss und nahm die Schritte durch den schmalen Flur im Erdgeschoss mit der Baskenmütze in der linken Hand. Er spürte beim Steigen der schmalen Treppe mit den muldig ausgetretenen Holzplanken den stechenden Rückenschmerz mit dem Muskelkrampf bis in beide Lenden, dass er mit der rechten Hand am Geländer entlangfuhr. “Das ist heute kein Wetter für den Buchenwald”, begrüßte ihn oben Otto Schulte vor der halb geöffneten Wohnungstür. “Kommen Sie rein. Den nassen Mantel legen Sie am besten über das Geländer”, fügte Otto Schulte der Vorsicht halber hinzu. Alfred Lehmann folgte der Hinzufügung, zog den grauen Regenmantel vor der Wohnungstür aus und legte ihn über das Geländer, das weiter zur Dachgeschosswohnung führte. So tropfte das Nass vom Kragen, den Mantelsäumen und Ärmelenden vom zweiten Obergeschoss den schmalen Treppenschacht herab bis zum Erdgeschoss.
Otto Schulte hatte den mitspazierenden Weggefährten durch den Buchenwald in besseren Tagen in das beengte Wohnzimmer geführt und ihm einen ausgesessenen schmalen Sessel in der Sitzecke vor dem Fenster zum Sitzen angeboten. “Was treibt Sie denn durch das unfreundliche Wetter?”, fragte Otto Schulte, der das offizielle Medienblatt ‘Neues Deutschland’ vom anderen ausgesessenen Sessel nahm, zusammenfaltete und auf den Boden links neben den Sessel legte. “Der Rückenschmerz”, antwortete Alfred Lehmann. “Wie kann ich das verstehen?”, fragte Otto Schulte und fügte hinzu: “Bei so einem Wetter kann doch der Rückenschmerz nur schlimmer werden.” “So ist es. Deshalb bin ich zum Arzt gegangen, damit er mir neue Schmerztabletten verschreibt”, erklärte Alfred Lehmann die Situation. Otto Schulte verstand die Situation und wiederholte, was er von einem der Gespräche der gemeinsamen Spaziergänge durch den Buchenwald wusste, dass der Rückenschmerz Folge eines Sturzes vom Gerüst sei, was Alfred Lehmann mit einem Kopfnick bestätigte. “Dann haben Sie aber schon viele Jahre diese Schmerzen”, folgerte Otto Schulte richtig und stellte die Frage, ob da nicht die Behandlung durch einen Wirbelsäulenspezialisten angezeigt sei. Alfred Lehmann verstand die Fragestellung und sagte, dass er auch daran gedacht habe. “Und was sagt ihr Arzt?”, erweiterte Otto Schulte die Fragestellung. “Der hält das offensichtlich für erfolglos. Jedenfalls hat er davon nichts gesagt. Ich kann aber nicht sagen, dass er an eine Spezialbehandlung nicht gedacht hat”, erwiderte Alfred Lehmann. “Dann müssen Sie ihn eben darauf ansprechen. Vielleicht lässt sich doch durch eine Operation eine Besserung erzielen”, schlussfolgerte Otto Schulte. Dieser Schlussfolgerung konnte Alfred Lehmann ebenfalls folgen, wenn er auch Bedenken hatte, ob eine solch aufwendiger medizinischer Vorgang, wie es eine Operation an der Wirbelsäule ist, einem Rentner als einem ‘Otto Normalverbraucher’ von staatlicher Seite zugestanden wird. “Versuchen können Sie es doch”, reagierte Otto Schulte auf die Bedenken des Spaziergangsgefährten durch den Buchenwald. Er bot sich gegenüber Alfred Lehmann sogar an, einem höher gestellten Funktionär im Ministerium für Volksgesundheit das Rückenproblem vorzutragen, um von höherer Stelle die nötige Unterstützung zu bekommen. Alfred Lehmann zog die Stirn in Falten und stellte sich die Frage, ob so etwas überhaupt möglich sei in einem sozialistisch reglementierten Arbeiter- und Bauernstaat. Auch wunderte sich Alfred Lehmann, dass Otto Schulte über solche höherreichenden Verbindungen verfügte, was ihn reflektorisch auf den Verdacht eines ‘antifaschistischen Horchlöffels’ brachte, wofür er aber bislang keinerlei Anhaltspunkte bei den gemeinsamen Spaziergängen durch den Buchenwald herausgehört hatte.
Ein Herr aus der Menge:
Immer das Gerede, und es tut sich nichts.
Es ist schon schlimm, wie voll sich das Mundwerk nimmt
mit den abgedroschenen Sprüchen von Gleichheit und Recht,
das ist, wenn es in die Praxis geht, doch nicht echt.
Denn in Wahrheit gilt die Gleichheit nur den Armen,
die das Dauerproblem mit dem fehlenden Brot und Geld längst haben,
dass da keiner dem andern auf den Teller sieht,
der ohne ein Krümel verlassen auf dem Tische steht.
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