Das dritte Beet, der Herbst, im westlichen Teil gelegen, war ganz bedeckt mit welken Blättern und Chrysanthemenblüten, während das im Norden befindliche vierte Beet, den Winter, ein dichter Schneeteppich bedeckte und Eisfelder und ein zugefrorener Graben es umgrenzten. So verbrachte Urashima sieben lange Tage im Palast der Meereskönigin und wurde gar nicht müde, all die Wunder und Herrlichkeiten anzustaunen, die ihm täglich gezeigt wurden und im Entzücken über die liebliche Schönheit Otohimes vergaß er ganz seine Heimat, seinen Vater, sein Weib und seine Kinder. Aber eines Tages, als er wieder müßig umherschlenderte, kamen ihm diese doch wieder in Erinnerung und ein tiefes Heimweh befiel ihn. Er seufzte schwer und sprach:
„Was mag wohl mein Vater von meiner langen Abwesenheit denken, wie unruhig werden meine Frau und Kinder sein und meine Rückkehr erwarten! Vielleicht glauben sie sogar, dass ich gestorben bin, verschlungen von den Wogen des Meeres, auf dem Grund des Ozeans ruhe!“
Ohne sich lange zu besinnen, eilte er zur Königin und bat, ihn zu den Seinen zurückführen zu lassen, da er jetzt schon sieben Tage von Haus abwesend sei und die Seinen sich sicherlich ängstigen würden.
Die Königin, die vergeblich sich bemühte, Urashima die Heimwehgedanken auszureden, nahm, als sie sah, dass ihre Worte nichts halfen, ihn mit sich in ihr Zimmer, und überreichte ihm ein kleines, fest verschnürtes Lackkästchen, indem sie sagte: „Ich habe keine Gewalt dich hier gegen deinen Willen zurückzuhalten, obwohl ich weiß, dass deine Rückkehr in die Heimat dir nur Elend bringen wird. Aber nimm hier zur Erinnerung an mich dieses Kästchen, es wird dir immer nützlich sein und dir, wenn du den Wunsch hast, zu mir zurückzukehren, diese Rückkehr ermöglichen. Diesen Wert behält das Kästchen aber nur so lange, als es ungeöffnet bleibt. Also beachte wohl! Lass dich nie durch sträfliche Neugierde und durch sonst irgendwelche Umstände verleiten, jemals das Band, das das Kästchen verschlossen hält, zu lösen und den Deckel zu lüften; es wäre dein Tod und nie fändest du den Weg zu mir. Willst du zu mir zurück, so gehe mit dem verschlossenen Kästchen an den Strand und rufe meinen Namen, so werde ich dir eine meiner Dienerinnen senden, die dich hergeleitet. Also beherzige meine Worte und lass das Kästchen geschlossen, dein Leben liegt darin. Und nun lebe wohl!“
Sie küsste ihn auf die Stirn und geleitete ihn bis zum Tor. Hier stand die Schildkröte bereit, die Urashima bestieg. In kurzer Zeit war sie mit ihm am Strand, wo sie ihn verließ. Mit dem Kästchen unterm Arm wollte er schnell seinem Dörfchen zuwandern, blieb aber auf seinem Weg wiederholt stehen; denn es kam ihm alles, der Strand, der Weg, die Bäume und Felder etwas verändert vor. Mehrmals glaubte er, dass die Schildkröte ihn an einer verkehrten Stelle abgeladen hätte, aber doch war ihm dieses oder jenes wiederum bekannt, so dass er schließlich sich mit dem Gedanken beruhigte, der siebentägige Aufenthalt auf dem Grund des Meeres habe seine Augen, seine Sehkraft beeinflusst.
Als er aber endlich in seinem Dorf ankam, da waren die Häuser und Hütten alle verändert, auf dem Markt standen Bäume, die er nie gesehen hatte; die Bewohner waren ihm unbekannt und so ängstlich er auch jedem ins Gesicht schaute, er konnte keinen Bekannten entdecken, auch die Kinder erschienen ihm fremdartig, die auch ihn verwundert anstarrten und ihm dann nachliefen. Er wurde ganz irre und wusste nicht mehr, was er denken oder glauben sollte; doch hielt ihn die Hoffnung aufrecht von den Seinen Aufklärung über diese wunderbare Verwandlung seiner Heimat während seiner nur siebentägigen Abwesenheit zu erhalten. Doch je näher er zu seinem Haus kam, desto ängstlicher war ihm zumute und große Bangigkeit erfüllte sein Gemüt. Was wird er hören müssen?
Aber! o Schmerz! — Als er an die Stelle kam, da seine Hütte gestanden, da war sie nicht mehr vorhanden. Ein öder, wüster, mit Unkraut überwucherter Schutthaufen war der Platz seiner Geburt. Keine Spur von seinem Vater, seiner Frau, seinen Kindern, nichts von allem, was ihm lieb und teuer war, war zu sehen. Schmerzerfüllt sank er weinend zu Boden, während in einiger Entfernung die Leute und Kinder ihn umringten. Da trat aus der Menge ein gebeugter Greis hervor und näherte sich Urashima mit der Frage:
„Wer seid ihr Fremdling und wen suchet ihr hier? Was erfüllt eure Seele mit Kummer und Schmerz?“
„Mein Alter“, antwortete Urashima mit schmerzbebender Stimme leise, „vor sieben Tagen verließ ich das Haus, das an dieser Stätte stand und kehrte nun zurück, finde aber nur einen Schutthaufen, ich sehe fremde Leute, fremde Gestalten und auch euch kenne ich nicht, sah euch noch nie in diesem Dorf, sagt, was ist hier in den sieben Tagen geschehen? Wo sind mein Vater, mein Weib, meine Kinder, die ich hier zurückließ? O bitte, löst mir dieses Rätsel, reißt die Binde von meinen Augen, dass ich sehen kann!“
„Ich verstehe euch nicht, junger Mann!“ entgegnete der Greis, „diese Stätte ist ein Trümmerhaufen, solange ich denken kann. Ich kenne euch nicht; wer seid ihr? Wie ist euer Name?“
„Ich bin Urashima Taro, der Fischer!“ rief Urashima.
„Urashima Taro? — —“ rief der Greis voller Erstaunen und wich schreckerfüllt einige Schritte zurück. „Seid ihr ein Gespenst? — ein Schattenbild? — Urashima Taro könnt ihr nicht sein! Es geht hier die Sage und ich erinnere mich aus meiner Jugendzeit, da von diesem noch oft an dunkeln Abenden erzählt wurde, dieser junge Fischer ging vor nun 700 Jahren eines Morgens aufs Meer und kehrte nicht mehr zurück. Die Gräber seiner Angehörigen könnt ihr auf dem Friedhof noch heute sehen, allerdings zerfallen, verwittert!“ —
Urashima erblasste, „siebenhundert Jahre?“ rief er verzweifelt aus und rang die Hände. Jetzt wurde ihm alles klar. Jetzt verstand er alles! Sieben Tage im Palast der Königin waren sieben Jahrhunderte. Tiefe Traurigkeit bemächtigte sich seiner, er erzählte dem Alten mit stockender Stimme sein Lebensschicksal, dann erhob er sich und verließ schwankenden Schrittes wie ein Träumender das Haus; er wandte sich wieder dem Meer zu und ließ sich dort am Strand nieder, seine Lage bedenkend.
Tiefsinnig betrachtete er die rollenden Wogen, die unermessliche Fläche und schaute verlangend nach der Schildkröte aus, dass sie ihn wieder zurückführe in das ewig jugendliche Reich der Meereskönigin; er dachte aber in seiner Traurigkeit nicht daran, sie zu rufen und so sah er vergeblich nach dem Tier aus.
Dann fiel sein Blick auf das Kästchen, das ihm die Königin beim Abschied gegeben hatte und das er gedankenlos neben sich auf den Sand gelegt hatte.
„Was bedeutet dieses Kästchen?“ fragte er sich. Die schöne Königin hat zwar gesagt, es sei mein Leben darin und ich werde es verlieren, wenn ich das Kästchen öffne. Ist dieses Gebot aber vielleicht nur eine Probe? Enthält das Kästchen nicht vielmehr mein Glück? Ist alles, was ich heute erlebte, nur eine Täuschung und schwindet diese, wenn ich das Kästchen öffne? Und selbst wenn ich sterben sollte, was schadet es? Bin ich jetzt nicht ein Fremdling in meiner Heimat und habe niemanden, niemanden, der mich liebt, der mich kennt? Ohne Vater, ohne Familie, ohne Bekannte, ohne Freunde bin ich schlimmer daran als ein Heimatloser; da ist mir der Tod nur ein Gewinn, er bietet mir etwas Besseres, als dieses unglückselige Leben! So sprechend, löste er langsam die Schnur, die um das Kästchen geschlungen war und öffnete ein wenig den Deckel.
Da stieg ein kleines weißes Wölkchen aus dem Kästchen empor, breitete sich dann aus, erhob sich und schwebte langsam über das Meer der Richtung zu, wo sich der Palast der Meereskönigin befand.
Laut aufschreiend sprang Urashima empor und breitete sehnsüchtig die Arme aus, aber — ein jäher heftiger Schmerz durchzuckte seinen Körper und er ließ die Arme sinken, da blickte er auf seine Hand und ein eisiger Schauer befiel ihn, die Hand, soeben noch so frisch und rosig, war welk, runzlig und knochig wie die eines Greises; nun fühlte er auch wie sein Blut erstarrte, wie es träger durch seine Adern floss, die Haut zog sich in Falten, der Herzschlag stockte, noch einmal schaute er ins Wasser, da spiegelte sich ihm ein verrunzeltes graues Greisenantlitz mit spärlich weißem Haar entgegen, sein eigenes Antlitz, vor Minuten noch in Jugendfrische, jetzt mumienhaft verändert. Mit einem Wehlaut sank er zu Boden und ein Häuflein grauen Staubes bezeichnete die Stätte, da Urashima jugendfrisch zurückgekehrt in wenigen Minuten zu Staub wurde. (Anmerkung: Die Schicksale Urashima’s sind urkundlich bestätigt. Die Zeit seiner Abwesenheit in der japanischen Chronik wird 477—825 n.Chr. angegeben, also 348 Jahre. In den Märchen, die verschiedenartig lauten, schwankt die Zeit zwischen 300 bis 7000 Jahre. Ich habe die mittlere Zeit gewählt, die in den neuesten japanischen Ausgaben auf 700 Jahre angegeben wird. Im Dorf Kanagawa bei Yokohama werden heute noch das Grab und die Fischergeräte Urashima’s gezeigt. Urashima ist eine der beliebtesten Märchenfiguren Japans. )
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