„Dauert es auch nicht lange? Ich will dir gerne folgen, aber ich habe nicht viel Zeit zu versäumen. Wohin soll es denn gehen?“
„Gar nicht weit von hier. Ich beabsichtige nur, euch zum Palast unserer Meereskönigin Otohime zu führen und euch dort Wunderdinge zu zeigen!“
„Das ist ganz unmöglich“, erwiderte Urashima, „denn ich kann nicht so schnell schwimmen und nicht so gut tauchen wie ihr und was schließlich die Hauptsache ist, ich kann ja im Wasser nicht atmen und dich deshalb nicht auf den Meeresgrund begleiten!“
„Macht euch deshalb keine Sorge, Urashima“, entgegnete die Schildkröte, „steigt auf meinen Rücken und das weitere werdet ihr sehen!“
„Aber mein Boot — —“ meinte Urashima bedenklich.
„Das findet ihr hier wieder, ich führe euch zurück!“ unterbrach ihn das Tier.
„Aber du bist so klein, du kannst mich nicht tragen!“ rief Urashima noch immer bedenklich.
Da rauschte es im Wasser, die Schildkröte dehnte und streckte sich und staunend sah Urashima, wie sie sich immer mehr vergrößerte, bis sie die gleiche Größe des Bootes hatte, dann fragte sie lachend:
„Nun? — Bin ich noch zu schwach für dich?“ Da schwanden Urashima alle Bedenken, flugs stieg er aus seinem Boote, nachdem er dasselbe sicherheitshalber verankert hatte und nahm auf dem Rücken des Tieres Platz.
„Halte dich nur recht fest und fürchte dich nicht!“ Nach einiger Zeit rief die Schildkröte: „Nun schließe fest die Augen und öffne sie nicht eher, als bis ich es dir sage. Auch halte ein Weilchen den Atem an, es dauert nicht lange!“
Urashima tat, wie ihm geheißen und dann fühlte er, wie das Tier im Wasser versank; das Wasser rauschte und brauste um seine Ohren; ängstlich klammerte er sich mit beiden Händen an das Schild seines sonderbaren Reitpferdes; aber eingedenk der Mahnung behielt er die Augen geschlossen und hielt den Atem an.
Schon glaubte er, es ginge mit ihm zu Ende; da ertönte der Ruf: „Jetzt!“
Da öffnete er seine Augen und sah sich auf dem Grund des Meeres, dessen feiner Sand aus lauter Perlen bestand. In der Ferne sah er ein riesiges Gebäude in blendendem Glanz schimmern, auf das die Schildkröte mit ihrem Reiter zu schwamm. Endlich kamen sie an und standen vor einem großen Tor, das aus purem Gold mit Edelsteinen verziert war. Zwei große unheimliche Meerdrachen lagen vor dem Tor und glotzten Urashima mit fürchterlich rollenden Augen an, so dass ihm ganz ängstlich wurde. Als die Drachen aber die Schildkröte erblickten, ließen ihre drohenden Blicke nach und sie versuchten freundlichere Gesichter zu machen.
„Nun steige ab und warte hier!“ sagte die Schildkröte und ging dann, nachdem Urashima abgestiegen war und sich auf den Boden gesetzt hatte, durch das Tor.
Urashima sah sich dann um und wunderte sich sehr, dass er, obwohl er sich auf dem Meeresgrund befand und das Meerwasser ihn umgab, doch ganz trocken war und ohne Beschwerden atmen konnte, ja die Luft kam ihm sogar viel reiner und würziger vor, als die oben auf der Erde.
Es dauerte gar nicht lange, da kehrte die Schildkröte zurück; ihr folgte eine große Anzahl Fische in allen Größen, Formen und Farben, wie sie der Ozean birgt; nur trugen alle ein ganz lichtes Gewebe in blauer Farbe, wie ein Kleid, und hatten silberne Aufschläge. Sie umringten Urashima, der sich erhoben hatte, und begrüßten ihn durch Neigen ihres Kopfes ehrerbietig.
Dann nahten sich zwei größere Fische, die auch ein blaues Kleid anhatten aber mit goldenen Aufschlägen, und die ein ebensolches Kleid brachten und ohne etwas zu reden, Urashima die Fischerkleider auszogen und mit dem mitgebrachten blauen Gewand bekleideten.
Urashima ließ alles willenlos mit sich geschehen; er sagte sich, nun bin ich einmal hier und kann allein nicht fort. Schlimm wird es mir sicherlich nicht ergehen; denn, wen man mit einem Ehrengewand bekleidet, den wird man wohl nicht verschlingen.
Nachdem ihm auch noch herrliche Samtpantoffel an die Füße gesteckt waren, kam eine wunderbar schöne Zofe, nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch das Tor, während die Fische als Ehrengeleit in respektvoller Entfernung in schönster Ordnung folgten.
Nachdem sie das Tor durchschritten hatten, gelangten sie an eine Marmortreppe, die sieben Stufen hatte und an einem Tor von glänzendem Mahagoniholz, an dem zahlreiche Smaragde flimmerten, endete. Hier angelangt, öffnete die Zofe das Tor und ließ Urashima eintreten, der sich nun in einem großen Saale befand, dessen unbeschreibliche Pracht seine Augen fast blendete. Zwanzig Säulen von reinstem Kristall trugen die aus Korallen gebildete Decke des Saales, von der eine Unmenge kostbarer Lampen herabhing, in denen wohlriechende Öle brannten. Die Wände waren alle aus Marmor und trugen zum Schmuck die verschiedensten Edelsteine und Rubinen. In der Mitte des Saales befand sich ein diamantener Tron, auf dem Otohime, die Meereskönigin saß, schön wie die Morgenröte, die das bleiche Nachtgestirn vertreibt. Den Tron umgab eine unendliche Menge von Würdenträgern und Palastbeamten, alle in kostbare Gewänder gekleidet. Die ganze Pracht war für den an derartige Schönheit und Wunder nicht gewohnten jungen Fischer so blendend, dass er nur zögernd und halb willenlos, langsam einen Fuß vor den andern setzte und sich so dem Tron nahte, wo er sich ehrfurchtsvoll und demütig niederwerfen wollte. Aber die Königin, die seine Überraschung und sein Zögern mit mildem, freundlichem Lächeln beobachtet hatte, erhob sich schnell, ergriff Urashima bei der Hand und verhinderte so sein Niederfallen. Mit einer Stimme, die dem Klang einer silbernen Glocke glich, süß und rein, sagte sie zu ihm:
„Sei mir willkommen. Ich habe gehört, dass du gestern in selbstloser Weise einer meiner liebsten Dienerinnen das Leben gerettet hast. So war es mein aufrichtiger Wunsch, dir diese edle Tat zu vergelten und dir meine Dankbarkeit zu beweisen. Deshalb habe ich dich zu mir eingeladen und ich habe mich gefreut, dass du so furchtlos warst und der Gefahr nicht achtetest, den Weg hierher zu unternehmen. Wer furchtlos ist, ist in der Regel auch treu!“ Der junge Fischer wusste nicht, wie ihm geschah und er war so verlegen und befangen, dass er auch nicht ein Wort zu erwidern vermochte; er machte nur eine stumme, sittsame Verbeugung.
Auf einen Wink der Königin wurden ihm nun seidene Polster gebracht, auf die er sich niederlassen musste, dann stellte man ein elfenbeinernes Tischchen vor ihm hin, auf dem sich auf einer roten Lackplatte schmackhafte Speisen verschiedenster Art befanden, die ihm sämtlich unbekannt waren. Er ließ sich nicht länger nötigen, sondern sprach den Speisen und Getränken tapfer zu. Es war für ihn im wahren Sinne des Wortes eine Göttermahlzeit; hatte er doch in seinem ganzen Leben noch nie derartige Sachen gesehen, geschweige denn jemals gekostet.
Als er sein Mahl beendet hatte, forderte ihn die Königin auf, sich den Palast anzuschauen; sie führte ihn von Saal zu Saal, von Zimmer zu Zimmer durch alle Räumlichkeiten, die mit verschwenderischer Pracht ausgestattet waren und jede nur irgend mögliche Bequemlichkeit aufwiesen.
Das wunderbarste aber war der Garten, der vier große Beete enthielt, die den vier Jahreszeiten entsprachen.
Das eine Beet, der Frühling, enthielt zahllose Pflaumen- und Kirschbäume, die über und über dicht mit Blüten besät waren und auf einem saftigen dunkelgrünen Rasen standen. Auf den Zweigen saßen zahlreiche Nachtigallen, die ihre lieblichen Romanzen melodisch ertönen ließen und eine unendliche Menge Lerchen hatte ihre Nester in dem Blütenmeer erbaut.
Nach Süden zu befand sich das Beet des Sommers: Hier standen Birnen- und Apfelbäume, deren Zweige sich unter der Last der herrlichsten Früchte bis nahe zum Erdboden beugten. Grillen und Zikaden erfüllten die Luft mit ihrem einförmigen und betäubenden Geschrei. Die große Hitze, die in diesem Teil herrschte, wurde gemildert durch einen sanften, kühlenden Wind.
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