Krull verzog das Gesicht. Er kannte Bergmann gut genug um zu wissen, dass er keine Hemmungen hatte, den Leichenfund vorzeitig an die große Glocke zu hängen und damit die Ermittlungen zu stören.
Er seufzte und sagte mit gedämpfter Stimme: »Männlich, Identität noch ungeklärt. Anfang bis Mitte Zwanzig. Erschlagen. Lag noch nicht allzu lange dort, zwei oder drei Tage erst. Die Kollegen von der Kripo haben übernommen und heute früh die Fundstelle untersucht. Ich wüsste gerne mehr, aber die Informationen stocken ein wenig. Mehr habe ich aktuell nicht, okay?«
Mit einem langen Zug rauchte Bergmann die Zigarette bis auf den Filter herunter, dann ließ er sie auf den Fußweg fallen und trat sie mit der Hacke seiner abgewetzten schwarzen Schnürschuhe aus.
»Es wird nicht oft gemordet im feinen Duvenstedt«, sagte er ruhig, »aber soll ich Ihnen etwas verraten, Krull? Je vornehmer das Gehabe und Getue der Menschen, desto düsterer ihre Geheimnisse. Wir dürfen also gespannt sein, welch' tiefer Abgrund sich in unserer schmucken Gegend auftut. Rufen Sie mich an, wenn in die Sache mit dem Leichenfund Bewegung kommt.«
Krull verzog missmutig das Gesicht. »Haben Sie mir nicht zugehört? Die Kripo hat die Ermittlungen übernommen. Wir Stadtrandbullen sind raus. Und hören Sie endlich auf, überall Ihre Nase rein zu stecken. Immer schön aus dem Sumpf raushalten, alles andere bringt nur Ärger. Weshalb gehen Sie nicht nach Hause und kümmern Sie sich um Ihre Katzen?«
In aller Ruhe zündete Bergmann sich die nächste Zigarette an. Er inhalierte tief und sagte dann: »Wissen Sie, was ich an Ihrem Vater geschätzt habe, Krull? Abgesehen davon, dass er ein verflucht netter Kerl war, war er ein verdammt guter Polizist gewesen. Und soll ich Ihnen sagen, weshalb er gut war? Weil er das Gegenteil von dem getan hat, was Sie gerade gefordert haben. Er hat sich nicht rausgehalten, sondern seine Nase tief in die Dinge reingesteckt. Er hat sich nicht hinter Dienstvorschriften versteckt, sondern sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Anstatt in Akten zu blättern, hat er in den Gesichtern von Menschen gelesen. Er war hartnäckig, und wenn's sein musste, auch nervig und ätzend. Ihr Alter hat sich nichts vormachen und von niemanden einschüchtern lassen. Zu schade, dass Sie das totale Gegenteil von ihm sind.«
Mit diesen Worten drehte Bergmann sich um und ging in die Richtung davon, aus der er gekommen war.
»Was ist denn das für ein Vogel?«, fragte der andere Polizist und biss in ein Rosinenbrötchen. Krull erschrak leicht. Er hatte nicht mitbekommen, dass sein Kollege bereits wieder neben ihm stand.
»Man merkt, dass du noch nicht lange bei uns hier oben bist«, grummelte Krull. »Fast jeder in Duvenstedt kennt den spleenigen Lothar Bergmann.«
»Der ist leicht verrückt? Hm, für mich sieht er aus wie ein gewöhnlicher älterer Herr. Er scheint sich ein wenig gehen zu lassen und wirkt etwas ungepflegt, aber ansonsten macht er einen normal Eindruck.«
»Normal war er früher. Doch das ist lange her. Heute ist er verbittert und geht allen auf den Geist.«
Der junge Polizeimeisteranwärter schob sich den Rest des Rosinenbrötchens in den Mund. »Wieso, was ist mit ihm geschehen?«, fragte er so, dass es gerade eben noch zu verstehen war.
Krull sagte: »Er hat als Journalist für verschiedene Zeitungen gearbeitet. Vor etwa acht Jahren erhielt er für eine von ihm aufgedeckte Machenschaft einen renommierten Journalistenpreis. Plötzlich war Bergmann so etwas wie ein Starreporter. Doch dann kam heraus, dass er sich die Geschichte von A bis Z ausgedacht hatte. Alles war eine einzige Lüge. Tja, das war ziemlich peinlich, vor allem für die Fachjury und für Bergmann selbst. Er hat nie erzählt, weshalb er sich auf diese Dummheit eingelassen hat. Es brachte ihm eine saftige Anzeige ein, und als Journalist war er natürlich erledigt. Zu allem Unglück erwischte es kurz darauf seine Frau. Sie stürzte zu Hause die Kellertreppe herunter und erlag ihren Kopfverletzungen. Bergmann behauptete, es sei Mord gewesen, doch es gab keine Anzeichen von Fremdverschulden – und außerdem nahm ihn nach der Schummelei sowieso niemand mehr ein Wort ab. Seitdem schnüffelt der alte Narr überall rum und wittert hinter jedem eingeschläferten Hund eine Weltverschwörung.«
»Bitter für ihn«, sagte der junge Polizist emotionslos. »Arbeitet er noch oder ist er in Rente?«
»Gelegentlich berichtet er für ein Anzeigenblatt, das wöchentlich kostenlos erscheint. Das ist mit seinen früheren Jobs natürlich nicht mal ansatzweise zu vergleichen. Lokalschmiererei anstatt große Politik. Ich glaube, er hofft inständig auf diese eine besondere Story, die seine Journalistenehre wieder herstellt.«
Die beiden Polizisten sahen Bergmann hinterher, der immer wieder mit erhobener Hand Passanten grüßte, ohne jedoch stehen zu bleiben oder einige Worte zu wechseln.
»Für eine besondere Story ist das hier jedenfalls die verkehrte Gegend«, sagte der junge Polizist vor sich hin, öffnete die Fahrertür des Einsatzwagens und stieg ein.
»Da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher«, murmelte Krull, doch das hörte sein Kollege nicht mehr.
13. März
Der Tote hieß Robert Schwarz, war sechsundzwanzig Jahre alt und stammte aus einem kleinen Ort in Brandenburg. Ledig, keine Kinder, technischer Mitarbeiter eines mittleren Unternehmens in der Spezialdiagnostik. Weshalb sein Leichnam im Duvenstedter Brook gefunden worden war und ob er einen Bezugspunkt zu den Walddörfern gehabt hatte, wussten die Ermittler bislang noch nicht – und falls doch, so hielten sie es vorerst zurück.
Die gerichtsmedizinische Obduktion hatte ergeben, dass Schwarz von hinten durch einen Schlag mit einem Sparten getötet worden war, dessen Kante einen tiefen Spalt in die Schädeldecke getrieben hatte. Brüche von Zungenbein und Kehlkopf sowie Male am Hals verrieten, dass er nach dem Hieb gewürgt worden war, um sicherzustellen, dass er auch tatsächlich tot war. Außerdem hatte die Spurensicherung festgestellt, dass der Tote von lediglich einer Person von der Straße zu der rund fünfzig Meter entfernt gelegenen Fundstelle getragen worden war – eine stolze Leistung, denn immerhin hatte Schwarz bei einer Körperlänge von knapp einen Meter neunzig rund achtundachtzig Kilogramm gewogen. Auf dem Weg zurück zur Straße, wo vermutlich ein PKW abgestellt worden war, waren die auf dem Hinweg hinterlassenen Fußabdrücke weitestgehend unkenntlich gemacht worden. Offen blieb die Frage, wann all dies geschehen war. Während der Dunkelheit war es kaum möglich, denn dann konnte man im Duvenstedter Brook nicht die Hand vor Augen sehen. Ebenso war es nahezu unmöglich, am helllichten Tag einen Toter tief in das offenes Feld hinein zu tragen, ohne dass es jemand mitbekam.
»Schreckliche Sache«, sagte Klaus Anger. Er setzte die Lesebrille ab, faltete das Boulevardblatt zusammen und schob es in die Außentasche seiner Jacke, die über der Rückenlehne des Stuhls hing, auf dem er saß. Anger war ein Jahr älter als Bergmann. Die beiden Männer kannten sich seit Jahrzehnten.
Bergmann leerte das Glas Bier, zu dem Anger ihn in die ganztägig geöffnete Gaststätte eingeladen hatte. Es war kurz nach elf Uhr am Vormittag.
»Noch eins?«, fragte Anger.
Bergmann schüttelte den Kopf. Seitdem er blutverdünnende Tabletten einnehmen musste, trank er gezwungenermaßen nur noch wenig Alkohol.
Anger fragte: »Was ist los? Du bist gedankenversunken.«
»Nein, eher grübelnd. Ein paar Dinge passen nicht zusammen, es ergibt sich kein klares Bild. Laut Kriminalaktennachweis wurde über den Toten keine Polizeiakte geführt. Der Junge war so sauber wie ein frischgebadetes Baby. Dennoch halten die Bullen Informationen über ihn zurück, etwa sein versteiftes Bein. Ich frage mich, weshalb.«
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