Als Martin am nächsten Morgen das Archiv betrat wusste er sofort, dass irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen sein musste. Der Rechner von Riccardo war abgebaut und die Sicherheitstür zum internen Archiv war weit geöffnet, die normale Beleuchtung war eingeschaltet worden. Riccardo war nirgends zu sehen. Für solche Fälle gab es eine klare Richtlinie: Martin löste einen stillen Alarm aus. In der Sicherheitszentrale würde eine Meldung auflaufen und in wenigen Augenblicken würden die Gardisten hier erscheinen.
Martin betrat vorsichtig das interne Archiv. An seinem Rechner saß jemand, den er, zumindest vom Sehen her, aus der technischen Abteilung kannte. Daneben stand ein ihm unbekannter Mann in einer normalen Soutane. Außerdem war sein Vorgesetzter Bischof Stepanus anwesend. Allerdings machte der einen sehr zerknirschten Eindruck. Trotzdem wandte sich Martin an ihn und informierte ihn über den von ihm ausgelösten Alarm. Da drehte sich der unbekannte Mann um und herrschte ihn an:
„Was haben Sie? Alarm ausgelöst? Sind Sie wahnsinnig? Wer gibt Ihnen das Recht dazu?“
„Es gibt gewisse Sicherheitsvorschriften für diese Abteilung. Zum Beispiel dürfen sich Fremde nur in Begleitung eines Sicherheitsbeamten in diesem Teil des Archivs aufhalten. Und Sie sind ein Fremder.“
In diesem Augenblick betraten vier Gardisten und ein Offizier den Raum.
Der Offizier erkundigte sich, wer den Alarm ausgelöst habe. Martin wies auf den Fremden und sagte:
„Ich bin für dieses Archiv verantwortlich. Dieser Besucher ist mir nicht bekannt und ich bin auch von Bischof Stepanus nicht zuvor über einen Besucher informiert worden. Außerdem kann es nicht sein, dass jemand ohne mein Wissen einfach den Archivrechner abbaut, oder auch nur bedient. Die Daten auf diesem System sind schließlich nicht unbedingt für die Öffentlichkeit gedacht. Glücklicherweise habe ich gestern noch eine Sicherheitskopie angefertigt, die oben bei euch im Tresor liegt.“
Der Offizier forderte den Besucher auf, ihn zwecks Identifikation in sein Büro zu begleiten. Das lehnte der jedoch entschieden ab. Erst nachdem man ihm angedroht hatte, ihn sonst abführen zu lassen, begleitete er die Gardisten. Vorher befahl er dem Bischof noch auf ihn zu warten. Man konnte dem Bischof seine Nervosität ansehen.
„Martin, Sie haben sich vollkommen korrekt verhalten. Das was Sie taten entsprach genau den Vorschriften, die Sie von mir persönlich erhalten haben. Trotzdem haben Sie gerade den größten Fehler Ihrer Karriere begangen. Ich kann es Ihnen jetzt leider nicht erklären. Wenn Sie hier unten wichtige private Sachen haben, packen Sie sie ein, auch wichtige Sachen aus Ihrem Zimmer. Nehmen Sie sich außerhalb Roms ein Zimmer, am bestens als Tourist unter falschem Namen, und warten Sie bis ich Sie auf Ihrem Handy anrufe. Um Himmels willen beeilen Sie sich, fragen können Sie später.“
Martin sah den Bischof verständnislos an.
„Ich verstehe kein Wort. Wo ist überhaupt Riccardo?“
„Riccardo ist tot. Gestern Abend angeblich bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Verstehen Sie endlich! Ich versuche Ihnen alles später zu erklären. Aber machen Sie jetzt, dass Sie verschwinden. Sie sind hiermit offiziell beurlaubt.“
Noch immer verstand Martin nicht. Aber er sah die Panik in den Augen seines Vorgesetzten und begriff, dass es besser wäre, den Ratschlag einfach zu befolgen. Er ging in sein Zimmer, zog zivile Kleidung an, nahm seine Papiere und eine Reisetasche mit den wichtigsten Utensilien mit und trat aus dem Gebäudetrakt. Dann mischte er sich unter die Touristen und verließ den Vatikan.
Bischof Stepanus blieb alleine im Archiv zurück. Ihm war selbstverständlich klar, dass Kardinal Rodrigos, denn um den handelte es sich bei dem Fremden, in wenigen Augenblicken wieder hier erscheinen würde. Ein Telefongespräch mit einem Kardinal der Kurie, und die Garde würde klein beigeben. Diesen kurzen Augenblick der Ruhe vor dem zu erwartenden Sturm wollte er genießen. Sein Blick ging langsam durch den internen Teil des Archivs. Bis auf den PC vor ihm hatte sich in den letzten zwanzig Jahren eigentlich nichts geändert. In Gedanken sah er sich als frischgeweihter Priester, der ehrfurchtsvoll die langen Regale ablief und nicht wusste, wo er mit seinem neuen Job anfangen sollte. Bis nach einiger Zeit auch bei dieser Arbeit die Routine eingesetzt hatte. Dokumente wurden ins Italienische und ins Englische übersetzt. Wichtige Sachen wurden an die Restauratoren weitergegeben. Unterlagen wurden aufgelistet und an einem markierten Platz eingelagert. Stepanus war der Jüngste von drei Archivaren, die unter Bischof Rodrigos für das allgemeine und das interne Archiv zuständig gewesen waren. Im internen Archiv durfte sich immer nur ein Archivar in Begleitung eines Gardisten aufhalten. Seinen beiden Kollegen waren die Arbeiten wohl zu eintönig geworden. Sie begannen Unterlagen, Dokumente und sogar kleinere Wertgegenstände nach draußen zu schmuggeln. Natürlich kam ihnen der Bischof auf die Schliche. Die beiden hatte er nie mehr gesehen.
Irgendwann stieß er damals auf ein Regal, in dem Unterlagen über die Gründer, die Santen und die Evanisten aufbewahrt wurden. Da er mit diesen Begriffen nichts anfangen konnte, unterrichtete er Bischof Rodrigos darüber. Der reagierte sehr ungewöhnlich: Der Raum wurde sofort separat abgesichert. Nur der Bischof hatte den Schlüssel zu diesem Raum und er verbrachte den meisten Teil seiner Zeit darin allein. Ab und zu waren sehr hochrangige Leute in seiner Begleitung. Doch um was es da ging, teilte man Stepanus nicht mit. Nach einiger Zeit kam Bischof Rodrigos immer seltener und dann gar nicht mehr. Schließlich wurde Stepanus zum Bischof befördert und zum Leiter des Archivs ernannt. Doch dieser Raum blieb auch jetzt noch für ihn gesperrt. Im Laufe der Jahre bekam er immer neue Mitarbeiter, die aber meist nicht lange blieben. Vor vier Jahren teilte man ihm Riccardo zu. Ein unzuverlässiger Mann aber ein Spezialist für Altlateinische Schriften. Zwei Jahre später kam Martin zu ihm. Damit hatte er zum ersten Mal einen Mitarbeiter auf den er sich verlassen konnte. Martin war es zu verdanken, dass sogar im Archiv die elektronische Datenverarbeitung Einzug hielt. Er genoss sein volles Vertrauen und bekam sogar die Genehmigung, sich im internen Teil alleine aufzuhalten. Von seinem früheren Vorgesetzten Bischof Rodrigos hörte Stepanus ab und zu noch Neuigkeiten. Seine Ernennung zum Kardinal und dass er eine spezielle Mission zu erfüllen habe. Die führte der Kardinal wohl auf sehr undiplomatische Art und Weise aus, denn er legte sich mit sehr vielen Leuten an, bekam aber immer von irgendwo Rückendeckung.
Am heutigen Morgen hatte er ihn zum ersten Mal seit etlichen Jahren persönlich wiedergesehen. Leider. Dass sie einige Jahre zusammengearbeitet hatten, und das eigentlich ganz gut, schien der jetzige Kardinal vergessen zu haben. Statt einer Begrüßung warf er ihm sofort eine schlampige und unqualifizierte Leitung des Archivs vor. Laut seiner Recherche seien geheime Unterlagen an die Öffentlichkeit gelangt! In seiner Begleitung befand sich ein Techniker, der auf Anordnung des Kardinals den Computer im allgemeinen Teil des Archivs untersuchte. Er konnte aber auf den ersten Blick keine Unregelmäßigkeiten feststellen und wollte die Anlage abbauen um sie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Danach untersuchte er den Rechner im internen Teil. Hier konnte er allerdings sofort eine klare Aussage treffen. Da der Rechner an keinem Netzwerk, auch nicht am Internet angeschlossen war, konnten von dort auch keine Informationen nach außen gelangen. Dass der Kardinal im Archiv eigentlich überhaupt keine Befugnisse irgendwelcher Art hatte, übersah er selbst geflissentlich. Und Stepanus war nicht in der Lage, den Kardinal in seine Schranken zu weisen. Das war der Zeitpunkt an dem Martin, und kurze Zeit später die Gardisten, erschienen. Martins Reaktion entsprach genau den Vorschriften. Doch das würde den Kardinal nicht daran hindern, Martin die Hölle heiß zu machen. Im Extremfall könnte es ihn seine Stellung im Archiv kosten. Doch das wollte Stepanus unbedingt verhindern. Deshalb hatte er dafür gesorgt, dass Martin verschwindet bevor der Kardinal zurückkommt. Außerdem nahm sich Stepanus vor, sich über den Kardinal zu beschweren. Nicht über den normalen Dienstweg, sondern bei seiner nächsten monatlichen Besprechung mit dem Papst persönlich.
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