Nach Schilderung der Abläufe durch seine Vorgänger, würde er gleich müde werden, sich aufs Bett legen und quasi gleich wieder aufwachen. Dann wären die fünf Tage vorbei und er ein vollwertiger Hüter. Dass mit dem Müde werden schien auf jeden Fall zu stimmen. Also legte er sich auf die Pritsche und versuchte sich zu entspannen.
Kurz bevor er richtig einschlief, hörte er weit entfernt Stimmen. Waren die fünf Tage schon um und man kam um ihn abzuholen? Langsam richtete er sich auf und öffnete seine Augen. Doch er war nicht in der Kammer mit dem Sakrament. Dieser Raum schien riesig zu sein. Allerdings wurde er nur durch wenige Kerzen erhellt. Die Luft war extrem stickig und verqualmt. In dem Raum verteilt saßen oder lagen ungefähr fünfzig Männer in grauen Kutten. Zumindest waren es mal Kutten, jetzt handelte es sich eigentlich nur noch um verdreckte Fetzen. Doch die passten zu ihren Trägern. Die Männer waren vollkommen ausgemergelt und erschöpft. Etliche waren dem Tod näher als dem Leben. Trotzdem versuchten sie etwas mit letzter Kraft zu erledigen. Bisher schien ihn niemand bemerkt zu haben. Bruder Marcel tippte einem der Mönche auf die Schulter. Genauer gesagt er wollte es, doch seine Hand ging durch den Mönch hindurch. Sie schien nicht materiell zu sein. Langsam begann er zu begreifen. Obwohl er diesen Raum noch nie gesehen hatte, wusste er, dass er sich in dem alten Felsenkloster befand. Wahrscheinlich zu der Zeit als es von den Santen und der Kirche angegriffen wurde. Das Sakrament hatte ihn als Zeitzeugen hierher versetzt. Er konnte alles sehen und hören, war aber selbst nicht wahrzunehmen. Eigentlich eine interessante Variante. Er begann sich in dem Raum umzusehen. Scheinbar waren es die Katakomben. An den Seiten hatte man Nischen in den Felsen geschlagen in denen man die Toten beerdigte. Anschließend waren sie wieder verschlossen worden. Eine Nische war noch teilweise geöffnet. Außer einem schmucklosen Sarg befanden sich noch etliche Schriftrollen, Töpfe mit Münzen, alte Bücher und viele sakrale Gegenstände darin. Zwei Mönche waren damit beschäftigt, die Nische wieder zu verschließen. Bruder Marcel begriff, dass die Mönche ihren geistlichen und weltlichen Schatz in den alten Grabnischen versteckt hatten. Zwar makaber aber scheinbar sicher. Bisher hatte man so gut wie nichts davon entdeckt.
Der Raum besaß nur einen Zugang. Einen gemauerten Gang mit einer ungefähr drei Meter hohen Gewölbedecke. Alle fünf Meter wurde das Gewölbe zusätzlich durch eine Säule abgestützt. Der Gang maß mindestens hundert Meter in der Länge. Ihm fiel auf, dass etliche Schlusssteine der Decke entfernt worden waren. Andere waren nur noch mit Stangen abgestützt. Viele der Säulen waren voller Kerben. Der ganze Gang sollte wohl im Notfall zum Einsturz gebracht werden. Bruder Marcel ging bis zum anderen Ende des Ganges. Dort waren zwei Mönche mit einer Figur beschäftigt, die am Eingang des Ganges stand.
„Bruder Abt, das waren die letzten Handgriffe. Die Sachen sind in den Hohlräumen versteckt. Unser Abt Edgarus wird diese Dokumente beschützen.“
„Dann komm Bruder Karlas, lass uns zu den anderen zurückkehren. Sie müssten auch bald fertig sein. Wenn das Kloster gestürmt wird, sollte man nichts von den erhofften Reichtümern finden. Ich bete das Bruder Markus mit dem Sakrament sein Ziel erreicht.“
„Geht schon vor Bruder Abt, ich muss mich noch einen Moment erholen. Dann komme ich nach.“
Der Abt nahm eine der beiden Lampen und ging durch den Gang in Richtung der Katakomben. Bruder Marcel, genauer gesagt seine körperlose Erscheinung, sah sich die lebensgroße Figur genauer an. Er wusste, dass sie jetzt im Archiv der Santen stand. Doch von irgendwelchen Hohlräumen war ihm nichts bekannt. Als er sich gerade auf den Rückweg machen wollte kam aus dem Gang ein anderer Mönch. Er ging an der Figur und dem dahinter sitzenden Mönch vorbei und verschwand durch einen kaum sichtbaren Spalt in der Wand. Bruder Karlas, der sich gerade auf den Rückweg machen wollte folgte ihm vorsichtig. Natürlich folgte auch Bruder Marcel den beiden. Nach einigen Metern mündete der Spalt wieder in einen größeren Stollen, an dessen Ende eine Laterne leuchtete.
Die Person, die dort wartete, gehörte eindeutig nicht zu den Evanisten. Die rote Kutte wies ihn mindestens als Bischof aus. Der unbekannte Mönch verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor ihm.
„Eure Exzellenz Bischof Gerold, ich habe gute und schlechte Nachrichten für Euch. Alle Schätze sind in den Gräbern der Katakomben versteckt. Man kann sie ohne großen Aufwand wieder ausgraben. Doch das Sakrament ist bereits weggebracht worden. Außer dem Abt kennt niemand das Ziel.“
Der Bischof schien zu überlegen.
„Schade, dadurch wird die Angelegenheit verzögert. Aber es gibt keinen Grund noch länger zu warten. In drei Stunden werden durch diesen Stollen die Söldner angreifen. Mit Gegenwehr ist ja wohl nicht zu rechnen.“
Dann übergab er dem Mönch ein Band.
„Trage dieses Band damit man dich als Verbündeten erkennt. Du kannst sicher sein, dass du eine fürstliche Belohnung erhalten wirst.“
Bruder Karlas hatte genug gehört. Er ging sofort zurück in die Katakomben um den Abt über den Verrat zu informieren. Als der unbekannte Mönch bei seinen Mitbrüdern erschien wurde er sofort gefesselt und eingesperrt. Der Abt rief seine anderen Brüder zusammen.
„Es ist nun soweit. Wir haben noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, alles andere liegt nicht mehr in unserer Macht.“
Dann gingen sie an den Anfang des Gewölbeganges und entfernten die manipulierten Schlusssteine. Gleichzeitig schlugen sie die Stützsäulen weg. Bevor sie sich bis zu den Katakomben zurückgearbeitet hatten begann der Gang einzustürzen. Es war wie eine Kettenreaktion, die auch die eigentlichen Katakomben erfasste. Alle Evanisten wurden von den herabstürzenden Felsmassen erschlagen.
Bruder Marcel geriet auch in Panik, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass er nicht verschüttet werden konnte. Alles versank in Staub. Als er einen Hustenanfall bekam klopfte ihm jemand auf den Rücken.
„Hey alter Mann, was ist los?“
Neben ihm stand ein Mönch, der ihm bekannt vorkam. Keiner der ausgemergelten Männer in den verschlissenen Kutten. So langsam legten sich die Staubschwaden und sein Blick klärte sich. Er befand sich in der Kammer mit dem Sakrament. Neben ihm stand Bruder Rolando und sah ihn besorgt an. Bruder Andreas gab ihm einen Becher Wasser.
„Hier, trink einen Schluck. Ich habe den Eindruck, dass wir gleich wieder eine interessante Geschichte zu hören bekommen.“
Die beiden stützten Bruder Marcel und gemeinsam gingen sie in den großen Besprechungsraum, wo neben einem leckeren Büfett, auch die anderen Hüter warteten. Man gönnte ihm noch eine kleine Pause aber alle waren natürlich auf seine Geschichte gespannt.
„Wer war Abt Edgarus?“
Die Frage war an den Abt gerichtet. Der sah ihn ziemlich verständnislos an.
„Edgarus war der erste Abt der Evanisten in dem alten Felsenkloster.“
„Im Archiv der Santen steht eine lebensgroße Statue. Keiner wusste bisher wen sie darstellt. Es ist dieser Abt Edgarus. In dieser Figur müssen Hohlräume eingearbeitet sein, die irgendwelche wichtige Informationen verbergen. Das werde ich so schnell wie möglich überprüfen.“
Nachdenklich sah der Abt Bruder Marcel an.
„Als damals unser Bruder Markus mit dem Sakrament nach London kam hatte er einen Brief von seinem Abt Bernando bei sich. Diesen durfte er erst nach einem Jahr öffnen. Sinngemäß stand in dem Brief, dass unsere toten Brüder und besonders Abt Edgarus über das Schicksal und die Vergangenheit der Hüter wachen. Doch wie kommst du jetzt darauf?“
Jetzt erzählte Bruder Marcel von seiner Reise in die Vergangenheit. Den Verstecken in den Grabnischen, dem Verrat eines Mönches und wie die Mönche die Katakomben zum Einsturz gebracht hatten. Als er mit seiner Erzählung am Ende war herrschte erst einmal betretenes Schweigen.
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