Im Prinzip machte Martin im internen Archiv nichts anderes als Riccardo im allgemeinen Archiv. Er suchte sich irgendwelche Unterlagen heraus und katalogisierte sie. Allerdings waren diese Schriftstücke meisten deutlich brisanter als die Unterlagen aus dem allgemeinen Archiv.
Nach einiger Zeit angestrengten Arbeitens hatte Martin das Gefühl, für heute genug gearbeitet zu haben. Er gab die letzten Infos in seinen Rechner ein und beschloss dann Feierabend zu machen.
Nachdem er im internen Teil die Beleuchtung abgeschaltet hatte, ging er zurück in den allgemeinen Teil des Archivs. Hier war nur noch die Notbeleuchtung aktiviert. Ein klares Zeichen, dass Riccardo seinen Arbeitsplatz bereits verlassen hatte. Durch Zufall fiel Martins Blick auf den Kalender, der jetzt wieder an der Wand hing. Er untersuchte die Rückseite. Dort waren eine E-Mail-Adresse und ein kryptischer Begriff notiert. Dieser Begriff war wahrscheinlich ein Passwort. Er widerstand der Versuchung, den Rechner von Riccardo noch einmal zu starten und diese Adresse aufzurufen. Man konnte ihn nicht unbedingt als einen Experten für Computer bezeichnen, aber ein solides Grundwissen hatte Martin schon. Deshalb war ihm klar, dass man sich vielleicht wundern würde, wer den PC hochfuhr, obwohl Riccardo nicht mehr eingestempelt war. Er schrieb sich die Daten auf und verließ das Archiv. Als Priester stand ihm im Vatikan ein kleines Zimmer zu. In der angrenzenden Bibliothek standen auch Computer, die er jederzeit benutzen konnte. Um sich dort einzuloggen, müsste er allerdings sein persönliches Passwort eingeben und damit wäre auch wieder nachvollziehbar, wer sich mit der ominösen E-Mail-Adresse anmeldete. Irgendetwas sagte ihm, dass er nicht den normalen Weg gehen sollte.
In seinem Zimmer tauschte er die Soutane gegen zivile Kleidung und machte einen kleinen Abendspaziergang. Als er an einem Internetcafé vorbeikam meldete er sich dort anonym im System an und rief dann die unbekannte E-Mail-Adresse auf. Doch der Account war leer, nicht eine einzige Nachricht war vorhanden. Scheinbar war Riccardo doch misstrauisch geworden und hatte alles gelöscht. Aber wieso hatte er dann nicht die Informationen von dem Kalender entfernt? Vorsichtshalber rief Martin noch den Papierkorb des E-Mail-Postfaches auf. Siehe da, der war nicht gelöscht worden. Auch der Ordner mit den gesendeten Dateien existierte noch. Damit war es für Martin ein Leichtes, die letzte Korrespondenz nachzuvollziehen. Ein gewisser Herr Schmidt war bereit, für spezielle Informationen, einen nicht näher genannten Betrag zu bezahlen. Die gewünschten Informationen bezogen sich auf einen Angriff auf ein Kloster im Jahre 1632 in Belgien. Entsprechende Unterlagen hatte Riccardo wohl finden können und an Herrn Schmidt geschickt. Scheinbar war auch die Bezahlung schon erfolgt, denn Riccardo bedankte sich für die schnelle Abwicklung. Allerdings hatte Herr Schmidt bereits einen neuen Auftrag erteilt: Er wollte wissen, für wen genau die Abschrift damals erstellt worden war und wer die „Ritter Christus“ seien, beziehungsweise waren. Außerdem ging es noch um nähere Informationen bezüglich der Eigentumsrechte der Kirche an zwei Objekten in Antwerpen.
Martin überlegte ob er den gesamten Schriftverkehr löschen sollte. Eventuell konnte er auch das Passwort ändern und würde Riccardo dadurch den Zugriff auf diese E-Mail-Adresse zumindest deutlich erschweren. Aber dann kam er zu dem Entschluss, dass das Ganze nicht seine Angelegenheit war und er sich da besser heraushalten sollte. Er druckte sich die Dateien allerdings aus und machte sich danach auf den Rückweg.
Noch lange, nachdem er schon längst im Bett lag, gingen ihm diese Dinge durch den Kopf. Die „Ritter Christus“ oder auch Soldaten Christi. Diese Begriffe waren während seines Priesterseminars oft Gegenstand nächtelanger Diskussionen gewesen. Nach jeder Flasche Wein wurden die Spekulationen wilder und abenteuerlicher. Irgendwann übermannte ihn dann doch die Müdigkeit.
Als Martin am nächsten Morgen ins Archiv kam war Riccardo schon intensiv bei der Arbeit. Martin begrüßte ihn nur kurz und ging dann in seine Abteilung. Irgendwie konnte er sich jedoch nicht richtig auf seine Arbeit konzentrieren. Die Nachrichten vom gestrigen Abend gingen ihm nicht aus dem Kopf. Speziell die Sache mit den Eigentumsverhältnissen.
Als er die Arbeiten im Archiv begann, hatte seine erste Tätigkeit darin bestanden, die bestehenden Inhaltsverzeichnisse und Suchlisten seiner Vorgänger in einer Datenbank zusammenzufassen und jeden Eintrag mit möglichst vielen Suchbegriffen zu verknüpfen. In dieser Datenbank suchte Martin jetzt nach der Abtei Sankt Michael in Antwerpen. Der Rechner fand einige Informationen. Unter anderem gab es auch eine Schenkungsurkunde aus dem Jahre 1650 und den Vermerk, wo im Archiv dieses Dokument aufbewahrt wurde. An der bezeichneten Stelle befand sich ein Regal mit vielen großen Holzkästen. An jedem der Kästen waren eine Notiz und eine Jahreszahl angebracht. Den Kasten mit dem Aufdruck 1649-1652 holte er heraus und stellte ihn auf einen Laufwagen. In dem Kasten befanden sich bestimmt weit über hundert Dokumente. Alle in lateinischer Sprache und alle gedruckt. Es fiel sofort auf, dass die Dokumente sich sehr ähnelten. Scheinbar das gleiche Papier, in etwa die gleiche Blattgröße und ein ähnliches Schriftbild. Martin kontrollierte stichprobenartig einige der anderen Kästen in dem Regal. Laut der Datumsnotizen handelte es sich um Dokumente aus der Zeit von 1625 bis 1660. Er konzentrierte sich wieder auf den Kasten auf dem Laufwagen. Nach einiger Zeit hatte er das gesuchte Dokument gefunden: Die Schenkungsurkunde eines Ferdinand von Bayern, laut der die Abtei Sankt Michael sowie ein angrenzendes Waldstück an der Schelde dem Bistum Lüttich vermacht worden war. Die Schenkung erfolgte zum Seelenheil des Ferdinands auf seinem Sterbebett. Bestätigt von einem Mönch des Bistums Lüttich. Martin spielte kurz mit dem Gedanken, dieses Dokument mitzunehmen. Aber das wäre in seinen Augen Diebstahl. Doch eine Fotografie davon fertigte er sicherheitshalber an. Wenn man dieses Schreiben für sich alleine betrachtete, würde kein Zweifel an seiner Echtheit auftreten. Aber im Zusammenhang mit den wahrscheinlich tausenden gleichartigen Dokumenten sah die Sache doch ganz anders aus. Er sah sich den Kasten mit dem ältesten Datum noch genauer an. Aus diesen Dokumenten ging hervor, dass es sich um Probedrucke der neu errichteten päpstlichen Druckerei zu Ehren seiner Heiligkeit Papst Urban VIII handelte. Martin hatte genug gesehen. Er verließ diesen Raum und ging zurück zu seinem Arbeitsplatz. Irgendwie fand er es sinnvoll, die Verweise auf die Abtei aus der Datenbank zu löschen. Einmal pro Woche fertigte Martin von seinen Arbeiten ein Update an. Eigentlich wäre es erst morgen soweit gewesen. Aber durch seine Korrekturen würden die Bestände nicht mehr übereinstimmen. Vorsichtshalber löschte er seine letzten Suchanfragen aus dem Suchverlauf. Danach fertigte er, wie gewohnt auf zwei USB-Sticks, Kopien der Datenbank an. Einen tauschte er mit dem Stick im Tresor des Archivs aus, den anderen würde er nach Feierabend im Tresor der Schweizer Garde auswechseln lassen. Das Foto der Schenkungsurkunde befand sich auf seiner privaten Kamera. Würde er es an Riccardo weitergeben, würde er ihm und seiner Wettleidenschaft wohl einen großen Gefallen erweisen.
Auf seine normalen Aufgaben konnte Martin sich heute nicht mehr richtig konzentrieren. In seinem Kopf kreisten zu viele Gedanken, die er erst einmal ordnen musste. Er wurde das Gefühl nicht los, in einem Buch zu lesen, das nicht für ihn bestimmt war. Ein Spaziergang an der frischen Luft würde ihm bestimmt guttun.
Bei seinem Spaziergang dachte er weiter über die geheimnisvollen Vorgänge nach. Es war ja früher nicht unüblich gewesen, dass man der Kirche einen Teil seines Vermögens vermacht hatte. Wahrscheinlich wurde das damals von einigen Priestern sogar forciert. Schließlich wollte keiner nach seinem Tod die nächsten Jahre im Fegefeuer verbringen, wenn es auch die Möglichkeit, gab sich von seinen Sünden freizukaufen. Martin musste lächeln. Da predigte die Kirche ein Leben in Demut und Frömmigkeit und sagte gleichzeitig, dass es eigentlich nicht schlimm sei, wenn man sich nicht daran hielte. Man kann sich ja ganz einfach später wieder von seinen Sünden befreien lassen. So gesehen könnte die Schenkung des Ferdinands von Bayern an die Kirche also durchaus rechtens gewesen sein. Wenn da nicht dieses ganze Regal mit den gleichartigen Dokumenten wäre. Angefertigt über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren. Also das Lebenswerk eines Priesters. Konnten das alles Fälschungen sein? Alleine würde er diese Fragen nicht klären können. Er würde eine Möglichkeit finden müssen, mit seinem Vorgesetzten darüber zu reden ohne Riccardo damit zu belasten. Doch nun wollte er erst einmal die frische Luft genießen.
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