Er ging durch einen Seiteneingang, der gewöhnlich nur vom Personal benutzt wurde. Die Luft war angefüllt mit dem würzigen Aroma einer frisch zubereiteten Minestrone, hinter irgendeiner geschlossenen Tür plärrte ein dünnes Stimmchen einen aktuellen Popsong. Ein schmaler Flur führte in einen Raum, in dem etwa zwanzig Tische standen. Jemand hatte Weinkartons und Kisten mit Gemüse vor dem Klavier aufgestapelt, auf dem David an den Wochenenden spielte, um die Gäste zu unterhalten. Zu dieser Stunde war das Restaurant allerdings leer, alle Tische ohne die üblichen weißen Leinentücher. Die Rollläden waren halb herunter gelassen, sodass David eine Weile brauchte, um im Zwielicht den Mann zu erkennen, der an der Bar saß und ihn zu sich winkte.
»Ciao, Davide, komm her, komm her, du musst unbedingt eine Glas mit mir trinken von der neue Wein.«
David schüttete lachend den Kopf. Er wusste nur zu gut, dass dem ersten Glas rasch ein weiteres folgen würde und es immer eine zweite Flasche gab, von der ebenfalls unbedingt gekostet werden musste.
»Ah, Davide, du bist mein Freund und musst helfen und trinken von der Wein. Ist vielleicht zu suss?«
Mit dieser Frage schob Ferrari einen Stapel Rechnungen und Bestelllisten zur Seite und ein Glas über den Tresen. Er schaute erwartungsvoll dabei zu, wie David am Wein schnupperte, das Glas hin und her drehte, wieder daran roch, um schließlich einen winzigen Schluck zu nehmen, der kaum die Lippen benetzte.
»No, no, no!« entfuhr es Ferrari, der mit großer Geste seinen grauen Vollbart raufte. »Ist bittere Medizin, was in deine Glas, eh? Du musst trinken, trinken, nicht riechen wie Travolta an Haufen von andere Hund.«
Im Hinblick auf einen erhofften Vorschuss für den nächsten Klavierabend nahm David nun einen beherzteren Schluck. Und Travolta, der seinen Namen gehört hatte, sprang bellend an Ferrari hoch, um sich den Kopf kraulen zu lassen.
„Caro mio, du bist ein feiner Hund, un cane bello. Du bleibst heute wieder bei deinem Freund Marco, sì? Und wenn die banditi von die Mafia kommen zu Marco, du sie beißen in den Arsch.«
David trank einen weiteren Schluck von dem Rotwein, der für seinen Geschmack tatsächlich ein wenig zu süß war. »Tu mir den Gefallen«, sagte er, »und gib ihm nicht wieder so viel zu Fressen. Er ist eh zu dick.«
»Ah, no, das siehst du falsch. Travolta ist nicht dick, er ist ein cane grandioso, ein große, starke Hund. Sì, Travolta, sì, sì, sì.«
Ferrari wuschelte den Hund. Dann wurde eine Weile über Gott und die Welt geredet, über den Wein, schließlich über Davids finanzielles Anliegen. Ein Scheck wurde ausgestellt, eine zweite Flasche geöffnet.
David winkte ab. »Zu früh für mich, wirklich.«
»Ah, nie zu früh für vino rosso«, sagte Ferrari mit einem fröhlichen Grinsen. Unbeirrt schenkte er die Gläser voll. »Ich habe dir von meine Nonna und Babbo erzählt, sì? Sie kommen bald aus Italia, um zu heiraten neu nach funfzig Jahre. Du weißt, eh? Kannst du spielen auf die Klavier bei festa?«
»Wann?«
»Kommt auf Wetter an. In ein paar Wochen, wenn Ernte von die Oliven vorbei.«
»Geht klar. Sag mir dann kurz vorher Bescheid.«
Marco nickte zufrieden. »Lass uns darauf trinken. Vino rosso gut für Geschäft und amore«, sagte er, sein Glas hebend. »Wie sieht aus mit amore bei dir?«
»Na ja«, sagte David, der den Trinkspruch des Sizilianers nicht unerwidert lassen wollte und nun ebenfalls sein Glas hob. »Ich hab dir schon von Silya erzählt.«
»Sì, Silya bellissima.«
»Vielleicht hat sie was mit so ’nem Schnösel aus der Firma.«
»Dann du musst trinken. Vino rosso auch gut für Sorgen bei die amore. Außerdem ist vielleicht nicht sicher, eh? Du Mann grandioso. Du kämpfen mit Schnösel wie Katze mit Maus. – Alla salute!«
»Salute!«
Als David wieder im Auto saß, war sein Alkoholpegel gerade noch im akzeptablen Bereich. Travolta hatte er im Restaurant gelassen, da er den Hund weder in die Uni noch zu seinem Job im Call Center mitnehmen konnte.
Auf dem Weg zurück nach Charlottenburg schmunzelte er amüsiert darüber, dass er ausgerechnet den radebrechenden Marco in seinem Traum als eloquenten Conférencier sah. Doch so war das halt mit Träumen, die Absurdität war quasi Gesetz. Er erkannte sich ja selbst kaum wieder, ohne Brille, dafür mit reichlich Pomade im Haar und mit einem schicken Smoking bekleidet. Völliges Chaos herrschte bei der Bigband auf der Bühne. Einerseits interpretierten die Musiker einen Titel von Glenn Miller, der tatsächlich erst 1940 geschrieben werden sollte, andererseits spielten sie dabei nicht den berühmten Sound dieses Bandleaders, sondern setzten scharfe, treibende Blechbläser ein, die am Anfang und am Ende des Stückes das Thema definierten, während rollende Saxofone rhythmische Riffs einwarfen. In der Mitte wurde alles umgekehrt, indem die Saxofone die Führung übernahmen, während das Blech mit kurzen Punktierungen aufwartete. Dieser Stil erinnerte ihn an Fletcher Henderson, dachte David, oder auf jeden Fall eher an Benny Goodman als an Glenn Miller. Und der Song, den Silya sang - oder Sally, wie sie ja im Traum hieß - , der wurde dann wiederum so gespielt , wie Miller es wohl getan hätte, obwohl das Stück ganz sicher nicht von ihm war. Das Motiv wurde hier mehrere Male wiederholt, langsam weggeblendet, bis es kaum mehr zu hören war, um dann mit voller Lautstärke wieder aufgenommen zu werden. David konnte definitiv sagen, dass er den Song nie zuvor gehört hatte, weder von Miller noch von sonst wem, und da dies sein Traum war, ging er davon aus, dass er ihn selbst geschaffen hatte, also der Komponist und Arrangeur war. Was allerdings den Text betraf, konnte er die Autorenschaft nicht mit der gleichen Sicherheit für sich beanspruchen. Im Club »Ferrari’s« verstand er jedes einzelne Wort des Textes, aber sobald er aufwachte, hatte er genauso jedes einzelne Wort im gleichen Augenblick wieder vergessen. Tatsächlich konnte er nicht einmal sagen, ob Sally den Text auf Englisch oder Deutsch sang. Japanisch wäre ebenso möglich, dachte er, oder ein kenianischer Dialekt.
Er hatte Glück und fand einen Parkplatz in der unmittelbaren Nähe des Seminargebäudes. Wegen der Semesterferien herrschte weniger Betrieb als sonst, dennoch waren die Übungsräume heiß begehrt. David begrüßte im Vorbeigehen einige Kommilitonen, unter denen allerdings keine waren, mit denen er vor sechs Jahren das Studium begonnen hatte. Die meisten unterrichteten inzwischen selbst, andere arbeiteten als Studiomusiker oder gehörten, wenn sie Glück hatten, dem Ensemble eines mehr oder weniger renommierten Orchesters an. Er wusste von einem, der inzwischen Musikkritiken für überregionale Zeitungen schrieb. Und er wusste von dem Scheitern vieler Pläne und Ziele, die einstmals so hoch gesteckt waren wie das hohe »a« einer Pikkoloflöte. Zwei der alten Freunde, die stets als die Begabtesten gegolten hatten, setzten ihre Studien in Meisterkursen im Ausland fort, weshalb David von ihnen am ehesten annahm, dass ihre jeweilige Laufbahn in eine nennenswerte Karriere münden würde. Was ihn selbst betraf, so klang, was er vor einigen Jahren kunst- und salbungsvoll um die Wörter »Plattenvertrag« und »Ruhm und Reichtum« herum formuliert hatte, inzwischen wie das Wimmern eines abgeschlafften Dudelsacks.
Vor dem Sekretariat des Instituts für Musikpädagogik intonierte eine Studentin mit engelsgleicher Stimme das »Dona nobis pacem« für Mezzosopran von Violetta Dinescu. David hatte keine Ahnung, warum sie das ausgerechnet an diesem Ort tat, aber er empfand die so geschaffene Stimmung als durchaus passend, als er die aushängenden Informationslisten nach seiner Matrikelnummer durchsuchte. Seine Ahnung, was das Ergebnis der Klausur betraf, fand Bestätigung, als er die Liste der durchgefallenen Kandidaten durchsah. Mit einem Achselzucken nahm er zur Kenntnis, dass die von ihm angesetzte halbstündige Vorbereitungszeit nun als zu gering bewertet werden musste. Und dennoch hatte diese halbe Stunde sein Interesse für die Thematik der Prüfung bereits um ein Vielfaches überstiegen.
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