Eine junge Verehrerin (das Wort »Fan« gab es noch nicht oder war zumindest kein Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs) bat ihn um ein Autogramm, wozu sie ihm auch gleich das Etikett einer Sektflasche entgegenhielt. Er hieß Dave Bloom, nicht David Blohm, jedenfalls unterschrieb er ohne jedes Zögern und ohne selbst darüber verwundert zu sein mit diesem Namen. Auch seine Begleiterin sprach ihn bereits den ganzen Abend so an, was ihm nur recht sein musste, denn er selbst nannte sie nicht Silya, sondern Sally.
Sie trug ein schulterloses Kleid aus einem weißen glänzenden Stoff, der die Blässe ihrer Haut betonte. Ihr einziger Schmuck bestand aus Margeritenblüten, die kunstvoll in die blonden Haare eingeflochten waren, und dann war da noch ein Tattoo über ihrem Dekolleté: ein kleiner Delfin. In seinen Augen war sie bezaubernd schön. Er selbst trug einen gut geschnittenen Smoking, der seinen Bauchansatz perfekt kaschierte, und dazu hatte er ein selbstsicheres Lächeln aufgesetzt, mit dem er die begehrenden Blicke der Männer an den anderen Tischen zurückwies. Aber er verstand nur zu gut, dass sie Sally anstarrten - er konnte es ja selbst nicht lassen.
Das Orchester spielte jetzt einen Titel von Benny Goodman, wobei die Musiker von den älteren Gästen des Clubs, die dem modernen Sound bislang nichts abgewinnen konnten, skeptisch betrachtet wurden. Die jungen Leute aber waren begeistert und verließen die Tanzfläche nur, um ein Glas Champagner zu trinken oder die Mailbox zu checken. Im Sommer 1937 waren Champagner-Cocktails und die neuen Smartphones absolut hip. Als der Schlussakkord gespielt wurde, betrat Marco Ferrari die kurze Treppe, die auf die Bühne führte, und wie auf ein geheimes Zeichen hin erhoben sich alle Musiker gemeinsam von ihren Stühlen. Trotz seiner untersetzten Statur waren Ferraris Bewegungen von einer lässigen, ja fast arroganten Eleganz. Das bleistiftdünne Menjoubärtchen wirkte seltsam deplatziert in den groben Zügen seines Gesichtes. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Klarinettisten ging er in die Bühnenmitte, wo ein Mikrofon an einem Kabel von der Decke herabgelassen wurde. Die Paare auf der Tanzfläche wandten ihre Aufmerksamkeit dem Inhaber des Clubs zu, der zweimal kurz auf die Membran des Mikrofons klopfte, woraufhin auch die übrigen Gäste nach und nach verstummten.
»Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde«, sagte Ferrari mit dem leichten Anflug eines Akzents, der seine südländische Herkunft erahnen ließ. »Ich freue mich, Sie alle hier begrüßen zu können, und es ist mir eine Ehre, Ihnen heute Abend einen ganz besonderen Gast vorzustellen. Eine Künstlerin, deren Karriere im Ferrari’s begonnen hat und die man heute in den Konzertsälen von Berlin bis New York kennt, schätzt und liebt. Meine Damen und Herren: Sally Frey!«
Sofort setzte frenetischer Applaus ein. Nach einem flüchtigen Kuss auf Daves Wange ging Sally mit einem Lächeln auf die Bühne. Ferrari sagte noch ein paar Worte, die allerdings im Lärm des Publikums untergingen, umarmte Sally kurz und überließ ihr dann das Mikrofon. Die erste Trompete stieß einen langgezogenen Klang aus, der an eine Sirene erinnerte und den großen Saal bis in den letzen Winkel ausfüllte. Der Klarinettist spielte das Leitmotiv von »Sallys Song«, die Menge beruhigte sich allmählich, und zusammen mit dem Orchester griff Sally die von der Klarinette vorgegebene Melodie auf.
Daves Blick hing wie gebannt auf ihrem Gesicht. Er war stolz und glücklich, von dieser Frau geliebt zu werden. In diesem Moment, in dem sie seiner Komposition Leben einhauchte, war Sallys Stimme für ihn die ganze Welt - bis sie unvermittelt durch den nervigen Klingelton eines Handys zum Einsturz gebracht wurde und ...
... er in seinem Bett aufwachte.
David wartete darauf, dass das elektronische Piepsen irgendwann einfach von selbst aufhörte. Aber nach einer Minute gab er diese Hoffnung auf. Er wusste genau, wer ihn aus seinem Traum gerissen hatte. Nur Bob war so penetrant hartnäckig. Allerdings musste David zugegeben, dass der Freund es eben wegen dieser Hartnäckigkeit geschafft hatte, sein Studium in Rekordzeit abzuschließen. Ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Mit geschlossenen Augen suchte er nach dem schnurlosen Telefon, das irgendwo links von ihm auf dem Boden liegen musste. Seine Finger tasteten mehrere Stapel aus Büchern, CDs und Notenblättern ab, bis er dann schließlich direkt in Travoltas nasses Maul griff. Der Hund, eine kuriose Mixtur aus Labrador und Pudel, leckte die Hand mit freudiger Begeisterung.
David öffnete nun doch die Augen. Unter einem zusammengeknüllten T-Shirt, an dem er zunächst Travoltas Sabber abwischte, fand er das Telefon endlich. Obwohl bereits zwei Minuten vergangen waren, piepste es unaufhörlich weiter. Auf dem Display wurde eine unbekannte Rufnummer angezeigt. Wahrscheinlich rief Bob von einem Apparat in der Klinik an.
»Was ist los, Doc?«
»Woher weißt du, dass ich es bin?«, fragte am anderen Ende der Leitung eine Stimme mit breitem Grinsen.
»Tja, woran könnte das wohl liegen, Bob? Vielleicht daran, dass du der einzige bist, der es dreißigmal klingeln lässt? ... Wie spät ist es eigentlich?«
»Gleich zehn.«
Ohne ein weiteres Wort schaltete David das Telefon aus. Der Frühdienst in der Klinik begann um sechs Uhr. Bob war also schon seit ein paar Stunden auf den Beinen. Er selbst wurde immer erst mittags richtig wach. Und ohne einen anständigen Kaffee war er überhaupt nicht ansprechbar. Gähnend zog er die Decke über den Kopf und versuchte wieder einzuschlafen. Als aber Travolta mit seinem blechernen Wassernapf über die Bodendielen in der Küche kratzte, war David endgültig wach. Er hätte gerne die Tür zur Küche zugeknallt, was aber nicht möglich war, da es überhaupt keine Tür gab. Genau genommen gab in dem winzigen 1-Zimmer-Appartment auch keine Küche, sondern lediglich eine Ecke mit Wasseranschluss. Vom Bett bis zum Kühlschrank, auf dem die Kaffeemaschine stand, waren es nur drei Schritte. David stand auf. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und gab dem Hund Wasser und einen Keks. Während er darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde, schaltete er den PC an. Jemand hatte ihm eine E-Mail mit dem Piktogramm einer tickenden Bombe geschickt. »Die Miete ist seit einer Woche fällig«, war nach einem Doppelklick zu lesen. »Erledigen Sie das umgehend!«
Den Anlass fand David zwar eher bedrückend, aber dennoch konnte er den schrägen Humor seines Vermieters mit einem Lächeln würdigen. Er nahm eine Tasse Kaffee mit ins Bett und dachte darüber nach, mit seinen Eltern über das Geld für die Miete zu sprechen. Allerdings würde sein Vater ihn nur wieder fragen, wann eigentlich mit dem Abschluss seines Studium zu rechnen sei. Das war ein Thema, über das es einiges zu sagen gab, vor allem seit David klar geworden war, dass er einen miserablen Musiklehrer abgeben würde. Bevor er sein ganzes zukünftiges Leben damit verbrachte, untalentierten Gören den »Flohwalzer« beizubringen, würde er sich lieber mit einer Blockflöte in die nächste Fußgängerzone stellen und peruanische Volkslieder zum Besten geben.
Er trank den Kaffee aus, nahm das Telefon und wählte die Nummer von Bobs Handy.
»Hey, Mozart!«, meldete sich der Freund.
David, dessen Rufnummer unterdrückt wurde, grinste. »Wie kommst du drauf, dass ich es bin?«
»Weil du inzwischen genug Zeit hattest, dir einen Kaffee zu machen.«
»Hmm.«
»Hast du von Silya geträumt?«
»Sally. In meinen Träumen heißt sie Sally.«
»Egal. Meinetwegen kannst du sie Pippi Langstrumpf nennen«, sagte Bob, dessen Stimme mit einem hallenden Klang durch die Telefonleitung kam. Außerdem war im Hintergrund noch die leise Stimme einer Frau zu hören, die anscheinend selbst gerade ein Telefonat führte.
»Wo bist du denn? Hört sich so an, als würdest du durch ’nen Tunnel fahren.«
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