Jack London - König Alkohol

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Jack London schildert in «König Alkohol» offen und wirklichkeitsnah seinen Weg zum Alkoholiker. Das Werk ist eine in Romanform verfasst Autobiographie. Phasenweise widersteht Jack London der Macht von «König Alkohol», der die Herrschaft über sein Leben übernommen hat, um wenig später umso schlimmere Rückfälle zu erleiden. Jack London starb mit nur 40 Jahren.

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Inhalt

Titelseite Jack London König Alkohol

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Impressum

Jack London

König Alkohol

I

Am Wahltag war es über mich gekommen. An dem warmen kalifornischen Nachmittag war ich von der Ranch nach dem Mondtal geritten, um im Dörfchen für oder gegen eine Menge beantragter Änderungen in der Verfassung des amerikanischen Staates Kalifornien zu stimmen. Der Wärme wegen hatte ich schon vor der Abstimmung mehrere Gläser getrunken, und hinterher kamen noch verschiedene. Dann ritt ich über die weinbewachsenen Höhen und wogenden Weiden heim und kam gerade rechtzeitig, um noch ein Glas zum Abendbrot zu bekommen.

»Wie hast du zum Frauenwahlrecht gestimmt?« fragte Charmian Die zweite Frau Jack Londons.

»Dafür.«

Sie ließ einen überraschten Ausruf hören. Denn ich will nicht verschweigen, dass ich in meinen jüngeren Jahren, obgleich glühender Demokrat, stets gegen das Wahlrecht der Frauen gestimmt hatte. Als ich später toleranter wurde, erkannte ich in ihm ohne Begeisterung ein unumgängliches Glied in der sozialen Entwicklung.

»Wieso hast du denn dafür gestimmt?« fragte Charmian.

Ich antwortete. Ich antwortete ausführlich. Ich antwortete ärgerlich. Je mehr ich antwortete, desto ärgerlicher wurde ich. (Nein, ich war nicht betrunken. Der Gaul, den ich geritten hatte, hieß nicht ohne Grund der ›Geächtete‹. Ich möchte den Betrunkenen sehen, der den reiten könnte.)

Und doch war ich – wie soll ich es nennen? – in gehobener Stimmung, ich fühlte mich ›sauwohl‹, hatte einen kleinen Schwips.

»Wenn die Frauen das Wahlrecht erhalten, stimmen sie für die Prohibition (Enthaltsamkeitsgesetz)«, sagte ich. »Die Frauen, Schwestern und Mütter, und nur sie sind es, die die Nägel in den Sarg König Alkohols schlagen werden – –«

»Aber ich glaubte, du seist ein Freund König Alkohols«, warf Charmian ein.

»Das bin ich. Ich war es. Ich bin es nicht. Ich war es nie. Nie bin ich weniger sein Freund, als wenn wir beisammensitzen und anscheinend die besten Freunde sind. Er ist der König der Lügner. Keiner sagt die Wahrheit so offen wie er. Er ist der erhabenste Begleiter; mit ihm wandert man wie mit Göttern. Er ist auch mit dem ›Nasenlosen‹ verbündet. Sein Weg führt zur nackten Wahrheit und zum Tode. Er schenkt klare Gesichter und trübe Träume. Er ist der Feind des Lebens und der Lehrer der Weisheit jenseits der Weisheit des Lebens. Er ist ein blutiger Mörder, und er tötet die Jugend.«

Charmian blickte mich an, und ich merkte, wie sie sich wunderte, woher ich meine Weisheit haben mochte.

Ich redete weiter. Wie gesagt, ich befand mich in etwas gehobener Stimmung. Aber in meinem Hirn war jeder Gedanke an Ort und Stelle. Jeder Gedanke stand völlig bekleidet sprungbereit hinter der Tür seiner kleinen Zelle, wie Gefangene, die mitternächtlich auf das Ausbrechen warten. Und jeder Gedanke war eine Vision, klar und deutlich, scharfgeschnitten, unverkennbar. Mein Hirn war von dem klaren, weißen Licht des Alkohols erleuchtet. König Alkohol hatte einen Anfall von Wahrheitssucht und gab die tiefsten Geheimnisse über sich selbst zum Besten. Und ich war sein Sprecher. Die Scharen der Erinnerungen aus meinem früheren Leben rückten vor, alle in Reih' und Glied, wie die Soldaten bei einer riesigen Parade. Ich brauchte nur hineinzugreifen und zu wählen. Ich war der Herr meiner Gedanken, der Meister meines Wortschatzes und der Summe meiner Erfahrungen: konnte unfehlbar meine Daten wählen und meine Darstellung aufbauen. Denn so weiß König Alkohol zu verführen und auch zu schmeicheln, indem er die Würmer des Verstandes wühlen lallt, verhängnisvolle Wahrheitsoffenbarungen einflüstert und Purpur über die Monotonie des Alltags wirft.

Ich schilderte Charmian mein Leben und erklärte ihr das Wesen meiner Konstitution. Ich war kein erblich belasteter Alkoholiker. War nicht mit einer organischen, chemischen Veranlagung für den Alkohol geboren. In dieser Beziehung war meine Familie völlig normal. Der Geschmack am Alkohol war erworben. Alkohol war mir schrecklich zuwider, war mir ekelhafter als irgendeine Medizin gewesen. Selbst jetzt konnte ich seinen Geschmack nicht ausstehen. Ich trank ihn nur, weil er anregte. Und von meinem fünften bis zu meinem fünfundzwanzigsten Jahre hatte ich noch nicht gelernt, mir etwas aus dieser Anregung zu machen. Zwanzig Lehrjahre voll Widerstreben waren nötig gewesen, meinen Organismus in empörendem Maße duldsam gegen den Alkohol und mich von ganzer Seele begierig auf ihn zu machen.

Ich deutete kurz meine erste Begegnung mit dem Alkohol an, erzählte von meinem ersten Rausch und meinem ersten Widerwillen und wies immer wieder auf das einzige hin, was mich schließlich überwunden hatte – die leichte Zugänglichkeit des Alkohols. Und nicht nur war er stets zugänglich gewesen, alle meine Interessen hatten mich auf meiner Lebensbahn geradeswegs zu ihm gezogen. Als Zeitungsjunge auf den Straßen, als Goldgräber, als Wanderer in fernen Ländern, überall, wo Männer zusammentrafen, um Gedanken auszutauschen, zu lachen, zu prahlen, zu wagen, zu ruhen, die stumpfe Plackerei mühseliger Tage und Nächte zu vergessen, überall trafen sie sich beim Alkohol. Die Kneipe war ihre Versammlungsstätte. Männer kamen dort zusammen, wie die Männer bei den Wilden am Feuer des Lagerplatzes oder vor dem Eingang der Höhle zusammenkommen.

Ich erinnerte Charmian an die Kanuhäuser im Stillen Ozean, von denen sie ausgeschlossen gewesen, wo die wollköpfigen Kannibalen sich vor ihren Weibern versteckt hatten, um zu feiern und in Frieden trinken zu können, während die heilige Stätte für die Frauen bei Todesstrafe Tabu war. Als ich jung war, entrann ich nur mit Hilfe der Kneipen aus der Enge weiblichen Einflusses in die freie Welt der Männer. Alle Wege führten zur Kneipe. Die tausend Straßen von Abenteuern und Erlebnissen liefen in der Kneipe zusammen und führten von dort über die ganze Erde.

»Die Sache ist eben,« schloss ich meine Predigt, »dass die leichte Zugänglichkeit des Alkohols mich auf den Geschmack gebracht hat. Ich machte mir nichts aus ihm. Ich pflegte über ihn zu lachen. Und doch bin ich nun schließlich vom Verlangen des Trinkens besessen. Es dauerte zwanzig Jahre, bis mir dies Verlangen eingeimpft war, und in weiteren zehn Jahren ist es stark geworden. Und die Folgen davon, wenn man dies Verlangen befriedigt, sind alles eher als gut. Mein Temperament ist ruhig und lustig. Wandere ich aber mit König Alkohol zusammen, so fühle ich alle Verdammnis der Melancholie.

»Aber«, fügte ich schnell hinzu (ich füge immer irgendetwas schnell hinzu), »König Alkohol soll haben, was ihm gebührt. Er spricht stets die Wahrheit. Und das ist sein Fluch. Die sogenannten Wahrheiten des Lebens sind nicht wahr. Sie sind notwendige Lügen, die dem Lebenden das Leben möglich machen, und König Alkohol beweist, dass sie Lügen sind.«

»Was nicht zum Leben führt«, sagte Charmian.

»Sehr richtig«, antwortete ich. »Und das ist das Allerschlimmste. König Alkohol führt zum Tode. Deshalb stimmte ich heute für das Frauenwahlrecht. Ich blickte auf mein Leben zurück und sah, wie ich durch die leichte Zugänglichkeit des Alkohols Geschmack an ihm bekommen hatte. Sieh, es werden verhältnismäßig wenige Alkoholiker in einer Generation geboren. Unter einem Alkoholiker verstehe ich einen Mann, dessen Organismus Alkohol verlangt und ihn ihm widerstandslos in die Arme treibt. Die große Mehrzahl sind Gewohnheitstrinker, die nicht nur ohne Drang nach dem Alkohol, sondern sogar mit ausgesprochenem Widerwillen gegen ihn geboren sind. Weder das erste, noch das zwanzigste oder das hundertste Glas vermag ihnen die Neigung zu geben. Aber sie haben es allmählich gelernt, geradeso wie man rauchen lernt – nur dass rauchen entschieden leichter als trinken ist. Sie haben es gelernt, weil der Alkohol so leicht zugänglich ist. Die Frauen wissen das. Sie bezahlen dafür – die Frauen, Schwestern und Mütter. Und wenn sie das Wahlrecht erhalten, werden sie für die Prohibition stimmen. Und das beste dabei ist, dass man der nächsten Generation gar keinen Zwang anzutun braucht. Da ihnen der Alkohol nicht zugänglich ist und sie keine ererbte Neigung für ihn besitzen, werden sie ihn nie entbehren. Das wird das Leben reicher für diese Jungen machen, wenn sie zu Männern herangewachsen sind – und auch glücklicher für die jungen Mädchen, die geboren und herangewachsen sind, um das Leben dieser jungen Männer zu teilen.«

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