„Unserem ehrenwerten Kollegen!“
Die ganze Runde dreht sich zu Hua Junshi. Auch wenn sie gerne ihre Späße machen, sind sie doch alle gute Kollegen. Hua Junshi beschließt, dass er sich für diesen letzten Abend nicht mehr über die Spitzen ärgern wird. Sollen sie doch alle denken, was sie wollen.
„Unserem ehrenwerten Kollegen“, wiederholen alle.
„ Gan bei !“
Und wieder landen die leeren Gläser auf dem Tisch. Zum Glück neben und nicht in dem Huhn. Hua Junshi ist dem Vorgesetzten Liu dankbar, dass er mit seiner Trinklust unbewusst das Thema gewechselt hat, alle plappern plötzlich von den Fällen, die Hua Junshi, meistens zusammen mit Dong Lian, gelöst hat. Er hört Satzfetzen wie: „Weißt du noch, der kleine Trickbetrüger, dem sie einen Mord anhängen wollten . . .“,
„ . . . wer hätte gedacht, dass die Schleuserbande . . .“,
„ . . . oder als die ganzen Nutten völlig verstört über die Straße rannten . . .“ und ähnliches. Sein Alkoholpegel verhindert die Konzentration auf die einzelnen Redner. In sich zusammen gesunken sitzt Hua Junshi sichtlich angeschlagen auf seinem Stuhl. Sein Kopf ruht auf der rechten Hand. Der Blick geht ins Leere. Erst als der Name Zhang Huiwen fällt, wird er wieder wacher.
„Tja, wer den wohl auf dem Gewissen hat“, hört er den Fotografen Peng sagen, „das würde mich wirklich brennend interessieren.“
„Ich denke, es war wohl doch Raubmord.“
„Aber was hat er in dieser Gasse gemacht? Spazieren gegangen ist er wohl nicht“, bemerkt Dong Lian. „Mir scheint, er wurde dorthin gelockt.“
„Vielleicht war es alles Zufall“, fällt Hua Junshi seinem Kollegen ins Wort. „Kann ja sein, dass er dort ein geheimes Treffen hatte und danach dann seinem Mörder begegnete.“
„Möglich ist wohl alles und wie es aussieht, werden wir es nie erfahren.“
Nachdenklich sieht Hua Junshi in die Runde. Er hat eine Ahnung, wer es war. Aber er hat diese Vermutung nie mit jemandem geteilt. Und er wird sich hüten, das jemals zu tun.
* * *
Bis spät in die Nacht saßen Hua Junshi und Dong Lian über den Akten. Sie notierten alles, was sie finden konnten, auf einzelne Zettel. Ein paar Unregelmäßigkeiten fielen ihnen auf. Zum Beispiel die Akte von He Mei, sie wurde beschuldigt, für den Tod eines Rotgardisten verantwortlich zu sein, schien aber ein recht freizügiges Leben hinter Gittern verbracht zu haben. Dann war da die Akte einer gewissen Li Xiaohua, die besonders wenige Eintragungen enthielt, dabei war sie mit Abstand am längsten in dem Gefängnis gewesen, als alle anderen zu der Zeit. Fast drei Jahre lang, nur mit jeweils kurzen Unterbrechungen. Sie wurde zwei Wochen vor Lao Zhangs Rückkehr nach Peking entlassen. Es schien, als ob jemand die Eintragungen vernichtet hatte. Oder die Wärterin Wu, die ohne Angaben von Gründen suspendiert wurde. Am Ende hatten die beiden Polizisten fast dreißig eng beschriebene Zettel in der Hand, von Leuten, die sie überprüfen mussten. Sie machten sich am nächsten Tag gleich an die Arbeit, herauszufinden, wo sich die Leute mittlerweile aufhielten. Es war eine mühsame Aufgabe, aber zum Glück gab es das System der Einheiten in China. Kein Chinese existierte praktisch ohne seine danwei , die entweder die Arbeitsstelle war oder die Schule beziehungsweise Universität. Hua Junshi und Dong Lian wurden telefonisch von einer Einheit zur nächsten geschickt, bis sie schließlich alle Aufenthaltsorte herausgefunden hatten. Fünf der gesuchten Leute waren mittlerweile verstorben.
„Weniger Arbeit“, hatte Dong Lian kommentiert.
Die restlichen waren fast über ganz China verteilt. Da sie nicht damit rechnen konnten, dass ihnen noch eine weitere Reise durch sämtliche Provinzen genehmigt würde, begannen Dong Lian und Hua Junshi telefonisch die Befragung der einzelnen. Wie Hua Junshi berechtigterweise einwarf, gingen ihnen dadurch wertvolle Informationen verloren, die sie bei einem Gespräch hätten sammeln können, wie zum Beispiel das Minenspiel, die Stimmung oder die Nervosität. Einige hatten sogar die Dreistigkeit, ohne ein Wort aufzulegen, als sie erfuhren, worum es ging. Bei denen machte Dong Lian ein großes Kreuz hinter die Namen. Sollten die Ermittlungen wieder in einer Sackgasse landen, dann müssten sie den Vorgesetzten Liu noch mal um eine Reisegenehmigung bitten. Bis auf vier ehemalige Gefangene hatten sie am dritten Tag die Befragungen beendet und konnten noch am gleichen Abend in den Zug nach Peking steigen. Die noch fehlenden vier wohnten in Peking. Das vorläufige Ergebnis war allerdings niederschmetternd. Die Mehrzahl hatte ein Alibi, was sie nachprüfen konnten, nur zwei kamen letztendlich mit Vorbehalt auf die Liste der hochgradig Verdächtigen: der frühere Amtsleiter Cui sowie eine Frau namens Wei, die durch die gewalttätige Behandlung im Gefängnis sowohl ihr ungeborenes Kind damals verlor, als auch den rechten Arm. Sie war voller Hass auf Zhang. Hua Junshi zweifelte aber an ihrer Schuld. Wenn sie es getan hatte, warum versuchte sie dann nicht, den Verdacht von sich wegzuschieben? Genau wie die Frau von Lao Zhang machte sie keinen Hehl aus ihrer abgrundtiefen Feindseligkeit. Im Gegenteil, sie freute sich, dass Lao Zhang eines gewaltsamen Todes gestorben war.
„Hoffentlich hat er sich vor Angst in die Hose geschissen und genauso gelitten wie ich damals“, fügte sie sogar noch hinzu.
Dong Lian war nicht so einfach zu überzeugen.
„Sie kann es auch als Manöver benutzt haben, weil sie sich dachte, dass wir sie dann nicht mehr verdächtigen würden.“
„Nein“, widersprach Hua Junshi, „die war ziemlich emotional, sie war nicht kalt genug, um so dreist zu sein. Das würde eher zu der Frau von Lao Zhang passen. Aber auch bei ihr habe ich meine Zweifel.“
Dong Lian seufzte. Ihm wäre es am liebsten gewesen, sie verhafteten einfach jemanden und könnten den ganzen Fall zu den Akten legen. Aber nein, Hua Junshi musste ja oberkorrekt sein! Als ob Hua Junshi seine Gedanken erraten hatte, sagte er: „Wir haben noch vier auf unserer Liste, wenn die auch nichts hergeben, dann kümmern wir uns noch mal intensiver um den Cui und die beiden Frauen.“ Dong Lian war einverstanden.
Zurück in Peking machten sie sich sofort an die Befragung der letzten Leute. Zwei davon waren ehemalige Kollegen und die konnten sie gleich streichen. Der eine hatte ein Alibi, der andere war körperlich nicht in der Lage gewesen, einen Menschen zu töten, er war seit einem Unfall vor drei Jahren querschnittsgelähmt. Bei den beiden anderen handelte es sich um weibliche Gefangene von damals. Aber auch dort erhärtet sich der Verdacht nicht. Die eine Frau, Li Xiaohua mit der dünnen Akte, war geistesgestört, ihr Mann Lao Liang gab bereitwillig Auskunft über alles, was er von früher wusste, konnte aber auch nicht beantworten, warum so wenig nur aufgeschrieben wurde. Zur Tatzeit hielten sich beide im Krankenhaus auf, Frau Li hatte einen Schlaganfall und der alte Liang wachte zu der Zeit Tag und Nacht an ihrem Bett. Die andere Frau war He Mei, die zwar durch Lao Zhangs Hilfe viel früher aus dem Gefängnis entlassen wurde als sie sollte und somit keinen Groll hegen durfte, aber Hua Junshi hoffte auf einen eifersüchtigen und vor allem geständigen Ehemann. Der war allerdings schon vier Jahre tot.
In seiner Verzweiflung nahm sich Hua Junshi noch mal alle Notizen zu den einzelnen Personen und versuchte die herauszufiltern, die einen guten Grund gehabt hatten, Lao Zhang zu töten und nahm dabei auch die Ehepartner sowie sonstige nahe stehenden Angehörige mit unter die Lupe. Er blieb an zwei Namen hängen: der ehemalige Anstaltsleiter Cui und, ohne eigentlich genau zu wissen, warum, Li Xiaohua. Er ging in das Krankenhaus, in dem Li Xiaohua nach dem Schlaganfall lag und suchte die damals zuständigen Krankenschwestern. Er hatte Glück, beide hatten Dienst, die Nacht- als auch die Tagschwester von Frau Li. Er bat erst die Nachtschwester zu sich, denn der Mord geschah ja in der Nacht. Er erklärte kurz, worum es ging und wurde schon bei der Erwähnung der Namen des alten Paares unterbrochen.
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