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Nach dem Gespräch mit der Nachtschwester riss Hua Junshi gleich die Akte an sich, kaum dass er im Revier angekommen war und suchte nach Informationen, was Lao Zhang an dem Abend gemacht hatte. Da stand es: Essen mit drei Kadern im Tuanjiehu Peking Enten Restaurant. Mist, das war am anderen Ende der Stadt. Der alte Liang konnte ihm dort nicht aufgelauert haben, mit ihm in die Gasse gegangen sein, um ihn dann zu ermorden. Das hätte er noch nicht mal geschafft, wenn er geflogen wäre. Trotzdem ließ es Hua Junshi nicht los. Er nahm sich noch mal das Gesprächsprotokoll von dem alten Liang vor. Keine Besonderheiten, keine fehlenden Fragen, alles schwarz auf weiß, was er wissen wollte. Sachlich und ernst hatte Lao Liang es erzählt. Emotionslos zwar, aber er glich eher jemandem, der mit dem Schicksal Frieden geschlossen hatte. Der Alte hatte erzählt, dass Lao Zhang mehr oder weniger verantwortlich war für den Zustand seiner Frau. Die Misshandlungen und Folterungen, physisch wie psychisch, haben Li Xiaohua zu dem gemacht, was sie jetzt war, eine manchmal sabbernde Frau, von der keiner genau wusste, was sie eigentlich mitbekam. Ob Lao Liang ihm etwas vorgespielt hatte? Hua Junshi wollte die Probe machen und nahm sich vor, ihn noch einmal zu verhören. Vielleicht hatte er Glück und er verplapperte sich. Vielleicht suchte er aber auch in der falschen Muschel nach der Perle.
Der Ehemann von Li Xiaohua, Lao Liang, war überrascht, als die beiden Polizisten erneut vor der Tür standen, ließ sie aber ohne zu zögern ein.
„Meine Frau schläft gerade.“
„Ich denke, es wird nicht lange dauern“, antwortete Dong Lian.
Sie setzten sich an den klobigen Wohnzimmertisch und Hua Junshi begann, seine Fragen zu stellen. Er hatte sich alles akribisch notiert, was er wissen wollte, was die Antworten bei der ersten Vernehmung waren und was er noch fragen konnte. Zu seiner Enttäuschung beantwortete Lao Liang die alten Fragen wie zuvor, es taten sich keine Diskrepanzen auf.
„Hat Ihre Frau Ihnen viel von ihrer Zeit im Gefängnis erzählt?“ begann Hua Junshi dann mit dem neuen Verhör. Lao Liang kratzte sich am Ohr, sein schütteres, schon graues Haar war kurz rasiert und stand in Stoppeln nach oben.
„Natürlich hatte sie eine Menge erzählt, es muss grauenhaft gewesen sein.“
Er stockte, schien zu überlegen.
Ob er überlegt, was er mir erzählen darf und was nicht, damit er den Verdacht, den wir hegen, nicht verstärkt, fragte sich Hua Junshi.
„Sie hatte eine Wärterin, die ihr damals so gut sie konnte geholfen hatte. Sie hieß, warten Sie, ich glaube, Wu Jieshi. Die kam dafür immer in Teufels Küche.“
Lao Liang lächelte leicht.
„Und natürlich hat sie von dem Anstaltsleiter Zhang erzählt, der ermordet wurde. Er hat sie tyrannisiert und gequält.“
Hah, dachte Hua Junshi, woher weiß er, dass der ermordet wurde? Er stellte sogleich die Frage.
„Das hatte Ihr Kollege neulich erzählt, deswegen waren Sie doch schon mal da, oder?“
Hua Junshi hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige gegeben, was für ein Anfängerfehler!
„Ja, klar, deswegen waren wir da.“
Er tat bewusst nachdenklich, um seine Dummheit zu vertuschen. Dong Lian sah fragend zu ihm. Der Kleine verrennt sich in etwas, dachte er. Trotzdem musste er zugeben, Respekt vor ihm bekommen zu haben, seit sie zusammen an diesem Fall arbeiteten. Hua Junshi war ein besserer Polizist, als er vermutet hatte.
„Hat sie vielleicht irgendetwas erwähnt, was besonders einschneidend in der Gefängniszeit war?“
„Oh, ich fand alles, was sie erzählte, einschneidend! Nicht umsonst ist sie ein wenig der Welt entrückt. Sie hat öfter von der Isolierzelle erzählt, ich denke, das war mit das schlimmste, was sie dort erlebt hatte. Sie hat auch noch immer Schmerzen in der Hüfte. Ähem“, Lao Liang stockte kurz, bevor er fort fuhr, „steht meine Frau unter Verdacht?“
„Zur Zeit steht noch jeder in Verdacht, Genosse Liang, auch Ihre Frau“, meldete sich Dong Lian zu Wort.
„Wir müssen alle Spuren verfolgen, die wir haben. Aber, um Sie zu beruhigen, wir glauben nicht, dass es Ihre Frau war. Sie lag ja zu der Zeit im Krankenhaus mit dem Schlaganfall.“
Lao Liang nickte, erleichtert, dass er sich darum keine Sorgen machen musste.
„Allerdings stehen Sie auch unter Verdacht, Lao Liang”, fügte Dong Lian noch hinzu. Lao Liang sah erschrocken auf den Polizisten, dann auf den etwas jüngeren Kollegen von ihm. Dieser nickte mit hochgezogenen Brauen.
„Hatten Sie oder Ihre Frau später Kontakt zu Lao Zhang?“
„Gott bewahre! Nein!“
Lao Liang schüttelte entrüstet den Kopf.
„Meine Frau wollte die Zeit so schnell wie möglich vergessen und so wenig wie möglich daran erinnert werden. Es scheint, als ob ihre Seele, nachdem sie mir alles erzählt hatte, für das Vergessen gut gesorgt hat. Es dauerte nicht lange, bis sie langsam in ihre Demenz verfiel. Ich habe oft überlegt, ob sie sich vorgenommen hatte, nach dem letzten Wort darüber in diesen geistesabwesenden Zustand zu fallen. Eines Tages sagte sie zu mir, dass sie nicht mehr darüber reden oder auch nur darüber nachdenken möchte und keine Woche später begann sie, alltägliche Dinge zu vergessen. Bis sie dann irgendwann kaum noch redete, mich nur mit großen Augen ansah, als ob sie überlegen musste, wer ich eigentlich sei. Die Ärzte fanden keine Erklärung, selbst der Psychologe, den wir aufsuchten, war ratlos. Ich glaube, sie wollte es so. Aber dabei ist sie noch so jung.“
Traurig senkte Lao Liang den Blick und heftete ihn auf einen Fleck am Boden neben dem Tisch.
„Wie alt ist Ihre Frau?“ fragte Dong Lian.
„Fünfzig.“ antwortete Lao Liang und sah wieder zu den beiden Polizisten.
„Wann begann Ihre Frau, äh, senil zu werden?“
Hua Junshi war nicht glücklich über seine Wortwahl, aber ihm fiel nichts anderes ein.
„Hm, das muss vor zwei oder drei Jahren gewesen sein. Warten Sie, bis 1975 war sie noch in Anhui, sie war dort zur Umerziehung, wir trafen uns erst kurz vor dem Tode Maos wieder hier in Peking. Das muss so Ende 1975, Anfang 1976 gewesen sein. Und vielleicht ein halbes Jahr später begannen ihre Aussetzer. Ja, vor zwei Jahren“, schloss Lao Liang seine Überlegungen.
„Haben Sie oder Ihre Frau Lao Zhang zu einem späteren Zeitpunkt irgendwann noch einmal gesehen?“
„Nein!“
Ein wenig zu schnell kam die Antwort, fand Hua Junshi, aber Dong Lian bemerkte später, dass dieses Thema durchaus Lao Liang emotional aufgewühlt haben kann und seine Wut auf den Anstaltsleiter ein bisschen in dem Nein mitschwang.
„Haben Sie irgendetwas von ihm gehört, in amtlichen Mitteilungen oder aus der Presse oder vielleicht über gemeinsame Bekannte?“
„Ich glaube nicht, dass wir gemeinsame Bekannte hatten“, schnaufte Lao Liang abfällig, „und falls ich irgendwo mal etwas über ihn gelesen haben sollte, habe ich es mir nicht gemerkt. Der Mensch existierte für mich einfach nicht mehr.“
„Aber werden Sie durch den Zustand Ihrer Frau nicht ständig an ihn erinnert?“ bohrte Hua Junshi weiter. Dong Lian sah seinen jungen Kollegen erstaunt an. Jetzt versuchte er es auf die harte Tour, dachte er, mit der Hoffnung, Lao Liang würde seine Gefühle irgendwann nicht mehr zurückhalten können und etwas Unüberlegtes sagen. Allerdings fragte er sich, was. Für Dong Lian stand fest, dass der Mann nicht der Mörder sein kann. Trotzdem ließ er Hua Junshi aber diese Spur verfolgen. Auch wenn alle Tatsachen dagegen sprachen, hatte Hua Junshi ihn ein wenig mit seinem Gefühl angesteckt, dass Lao Liang etwas damit zu tun haben könnte.
„Nein, der Kerl ist aus meinem Gedächtnis gestrichen. Meine Frau ist krank, sie hat schlimmes durchgemacht, ihre Seele hat sich verschlossen, aber sie ist immer noch die gleiche Person, die ich damals geheiratet habe. Ich benötige meine ganze Kraft, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen, da brauche ich keine blinde Wut auf den Menschen, der ihr das angetan hat. Die Energie kann ich mir für besseres aufheben.“
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