„Was machen Sie hier? Wer sind Sie?“
Der Pförtner aus dem kleinen Kabäuschen am Eingang hatte die offene Tür entdeckt und wollte nach dem Rechten schauen. Als Hua Junshi sich erschrocken umdrehte, erkannte der Pförtner aber gleich den Polizisten. Er hatte sich ja erst vor kurzem in dem großen Buch registriert.
„Ach, Sie sind es!“
Erleichtert nickte der schon etwas ältere Mann.
„Ich hatte nur grad die Fotos gesehen und war neugierig“, erklärte Hua Junshi, dann stutzte er und hätte sich fast mit der Hand auf die Stirn geschlagen, als ihm der Gedankenblitz kam. „Sagen Sie, waren Sie schon hier als Lao Zhang Dienst hatte?“ fragte er den Mann.
„Lao Zhang? Wer ist denn das? Ich kenne hier jeden, müssen Sie wissen, ich arbeite schon seit meiner Kindheit in diesem Gefängnis“, fügte er noch stolz hinzu.
„Ich meine Zhang Huiwen“, erwiderte Hua Junshi.
„Zhang Huiwen, Zhang Huiwen, ja, der Name sagt mir was“, überlegte der Pförtner zögernd.
„Dieser hier ist es.“
Hua Junshi zeigte auf eines der Fotos an der Wand. Der Pförtner kam näher und sah sich das Bild genauer an.
„Ja, natürlich kenne ich ihn, der war von 1968 bis 1972 hier.“
Diese Aussage überzeugte Hua Junshi nicht sehr, denn es stand unter dem Foto.
„Er hatte damals mit eiserner Faust die Geständnisse aus den ganzen Konterrevolutionären herausgequetscht!“
Auch diese plötzliche Erinnerung des Alten stand fast wortwörtlich ebenfalls dort. Hua Junshi bezweifelte langsam, mit diesem Pförtner genau die richtige Person für die Informationen, die er brauchte, gefunden zu haben. Der Mann schien schon senil zu sein.
„Als er in Tuxian ankam, sollte er den Bürgermeister ersetzen, der war nämlich auch ein Rechter und hier in diesem Gefängnis mitsamt seiner Familie eingesperrt worden. Und seine erste Amtshandlung war, den zu verhören. Mann, da flogen die Fetzen!“
Hua Junshi horchte auf, nicht alle Gehirnzellen waren anscheinend der Altersdemenz verfallen. Er zog einen Stuhl heran, deutete dem Pförtner, sich zu setzen und nahm sich selbst auch einen. Er gab dem Alten eine Zigarette, doch dieser lehnte ab.
„Hat der Arzt verboten, chronische Bronchitis.“
Als Beweis hustete er geräuschvoll. Den Schleim, der sich dabei im Mund ansammelte, spuckte er unbekümmert neben seinen Stuhl.
„Und weil er das so brillant gemacht hatte, wurde er gleich auf den Amtsleiter Stuhl gesetzt. Seine Hauptaufgabe war, die schweren Fälle zu verhören.“
Schwere Fälle waren die, die nicht zugeben wollten, dass sie Konterrevolutionäre waren. Oftmals waren sie es auch nicht, sondern wurden nur verhaftet, weil ein anderer sich rächen wollte. Solche Missverständnisse gab es viele während der Kulturrevolution. Nur wenige hielten die Folter und Verhöre aus, ohne etwas zu gestehen, was sie gar nicht begangen hatten. Die meisten waren aber so verzweifelt, dass sie ihre angeblichen Missetaten zugaben, um Gnade bettelten und mit einer Strafe davon kamen, die dann wenigstens die tägliche Folter abstellte. Einige schafften beides nicht und brachten sich um. Wieder andere waren schon so geschwächt von der mangelhaften Nahrung, der Zwangsarbeit und den seelischen und körperlichen Misshandlungen, dass sie während der Haft starben.
„Außerdem war er für die Leitung der Anstalt natürlich zuständig, über ihn lief alles“, erzählte der Pförtner weiter, „Beschwerden, Ergebnisse aller anderen Verhöre, Gefangenenberichte und so weiter. Der war ein harter Brocken, was der alles wegsteckte. Der hat ohne mit der Wimper zu zucken schwangere Frauen getreten und geschlagen, immer wieder auf die gleiche Stelle. Teilweise stachen die gebrochenen Rippen durch die Haut durch. Selbst dann war er noch nicht zufrieden, einmal musste er noch wenigstens drauf hauen.“
Hua Junshi fröstelte. Er dachte an einen früheren Freund, Wang Xu, dessen Familie während der Kulturrevolution als Kapitalisten eingestuft wurde. Hua Junshi hatte mit einem Kollegen zusammen Wang Xu verhört, das war ganz am Anfang seiner Laufbahn. Und als Wang Xu nicht gestehen wollte, hatte sein Kollege angedeutet, dass Hua Junshi ruhig schlagen dürfe. Am Anfang tat ihm fast jeder Schlag genauso weh, wie er Wang Xu weh getan haben musste. Der saß mit einem fassungslosen Gesicht auf dem Stuhl, seine Hände hinten an der Lehne festgebunden und die Tränen rannen sein Gesicht hinunter. Dann plötzlich machte es sogar Spaß, er hatte richtig angefangen, den früheren Freund für seine Schlappschwänzigkeit zu hassen. Der saß einfach da und heulte wie ein Baby! Er schlug immer wieder mit der Faust auf das linke Auge, bis dieses vollkommen zugeschwollen war. Bei einem Schlag hörte er das Krachen, als der Wangenknochen brach. Trotzdem hatte er weitergemacht, bis Wang Xu bewusstlos wurde. So hatte sich Hua Junshi den Respekt seiner Kollegen verdient, das hatte keiner dem schmächtigen Jungen damals zugetraut. Nachdem Wang Xu hinausgetragen wurde und Hua Junshi mit der Blutlache alleine im Zimmer war, wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Er schwor sich, niemals wieder so aus der Kontrolle zu geraten, und noch viele Jahre später senkte er reuevoll den Kopf, wenn er Wang Xus schiefes Gesicht auf der Strasse erkannte. Diese schreckliche Szene lief wie eine Wiederholung im Fernsehen vor Hua Junshis innerem Auge ab, während der alte Pförtner von den sogenannten Heldentaten Lao Zhangs erzählte.
Mit Gewalt riss er sich zusammen und hörte wieder aufmerksam zu. Erst als die Erzählungen des Alten zu unwichtig wurden, mischte er sich ein.
„Gab es Kollegen, die Zhang Huiwen gehasst haben, vielleicht, weil er so schnell die Leitung der Anstalt übertragen bekommen hatte?“ fragte Hua Junshi, als der Pförtner eine Pause machte.
„Na ja, der Cui war natürlich nicht sehr glücklich, der wurde ja von seinem Platz verdrängt.“
Hua Junshi schaute auf das Foto, was links von Lao Zhang hing. Ein runder Kopf mit kleinen Augen lächelte etwas gequält in die Kamera.
„Warum wurde er ersetzt?“ fragte er nach.
„Der hatte keine Durchsetzungskraft und war der Regierung von Tuxian schon lange ein Dorn im Auge. Aber sie hatten keinen Nachfolger. Die wollten ja alle hohe Quoten erreichen in der Bekämpfung der Rechten, wissen Sie? Und der Cui hat sich eher auf seinem Posten ausgeruht. Als dann der Zhang kam, war es nur eine Formalität. Der Cui hatte bestimmt nicht damit gerechnet, von einem Ortsfremden abgelöst zu werden. Sauer war der schon.“
„Sauer genug, um sich zu rächen?“
Der Pförtner runzelte die Stirn. „Hm, kann schon sein . . .“
„Lebt der Cui noch hier?“
„Keine Ahnung, ich hab den nie wieder gesehen. War wie vom Erdboden verschluckt.“
Hua Junshi machte sich eine Notiz in sein schon etwas zerfleddertes Heft, das er immer dabei hatte.
„Wissen Sie, ob Lao Zhang vielleicht Feinde hatte?“ fragte er anschließend.
„Feinde? Was ist eigentlich los?“
„Wir ermitteln in einem Fall, in den Lao Zhang verwickelt ist“, beantwortete Hua Junshi ausweichend die Frage. Er sah den Pförtner erwartungsvoll an.
„Feinde“, wiederholte der. „Na ja, was heißt Feinde. Er war bei einigen nicht sehr beliebt, das steht fest. Aber hier hackt ja keine Krähe der anderen das Auge aus.“
„Auch nicht, wenn mittlerweile Zeit vergangen ist und dieser jemand keine, ich sag mal, Konsequenzen zu erwarten hat?“
„Ich denke, der Cui war bestimmt der sauerste von allen. Der hat sich sogar mir gegenüber ziemlich ärgerlich über den Zhang ausgelassen. Die Vorgänger hatten eigentlich keinen Grund, sich über den Zhang zu beschweren.“
„Wie kam es denn, dass Lao Zhang wieder von seinem Posten abgesetzt wurde.“
Hua Junshi hoffte, da vielleicht einen Hinweis zu bekommen. Aber er wurde enttäuscht.
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