„Ruf bitte im Revier an und sag dem Kollegen von der Fotoabteilung, er soll sofort kommen. Riegel vorher die Müllkippe hier ab, damit keiner den Tatort zerstört“, befahl Dong Lian. Hua Junshi rührte sich nicht. Wie vom Donner gerührt starrte er auf die Leiche.
„Scheiße, ich hätte den Jüngling doch nicht mitnehmen sollen“, murmelte Dong Lian. „Hey, hörst du mich?“ rief er. „Mach keinen Mist und brich jetzt hier zusammen, so schlimm sieht die Leiche nun auch nicht aus.“
Hua Junshi kam langsam wieder zu sich.
„Das ist Lao Zhang“, gab er tonlos von sich. „Das kann nicht sein, wer sollte ihm was Böses tun?“
Hua Junshi schüttelte den Kopf, ungläubig und unfähig, sich zu rühren.
„Hey Genosse“, rief Dong Lian den alten Mann, „geh zu einem Telefon und rufe diese Nummer an. Lass dich mit Genosse Peng verbinden, sag ihm, Dong Lian braucht ihn hier. Warte, ich schreib dir alles auf.“
Im Müll balancierend suchte er nach einem Zettel und einem Stift, um dem alten Mann die Anweisungen zu geben.
„Wer bezahlt mir das?“ murrte der alte Mann. Dong Lian überreichte ihm mit dem Zettel eine ein Mao Münze.
„Beeil dich!“
Er deckte die Leiche wieder mit der Plastiktüte zu, stolperte von dem Müllberg und versuchte, die inzwischen eingetroffenen Schaulustigen zu vertreiben.
„Hier gibt es nichts zu sehen, geht weiter, Leute!“
Als die Gruppe der Neugierigen sich langsam auflöste, wandte er sich Hua Junshi zu.
„Hey, ist jemand da?“ fragte er zynisch.
Als Hua Junshi nicht reagierte, schüttelte Dong Lian ihn an den Schultern vor und zurück, bis er endlich aus seiner Trance erwachte.
„So, jetzt erzähl mal, wer ist der Typ?“
* * *
Dong Lian stößt Hua Junshi an.
„Na, alter Freund, wo warst du gerade?“ fragt er, als Hua Junshi erschrocken den Kopf dreht. „Doch nicht etwa wieder bei dem Fall Zhang, oder?“
Dong Lian braucht keine Antwort. Er sieht an dem Gesicht seines Partners, dass er genau darüber nachgedacht hatte.
„Das ist über fünfundzwanzig Jahre her, wie kannst du immer noch darüber grübeln?“
Mit rollenden Augen schüttelt Dong Lian den Kopf. Hua Junshi sieht ihn aus seinen schon vom Alkohol Blut unterlaufenen Augen an. Er erwidert nichts. Lange Jahre hat er Dong Lian nicht die Wahrheit gesagt. Auch das verzeiht er sich nicht. Es war die schwerste Entscheidung, die er je gefällt hat. Manchmal, wie heute Abend, überkommt ihn das schlechte Gewissen. Er weiß nicht, ob nicht vielleicht jeder so gehandelt hätte wie er. Hatte er zuviel Angst vor den Konsequenzen gehabt? War er als Polizist nicht verpflichtet gewesen, alle Tatsachen darzulegen? Er weiß es nicht, es ist müßig, darüber weiter nachzudenken. Es ist, wie es ist. Und jetzt ist es sowieso zu spät.
„Schluss mit dem Unmut“, fährt Vizeinspektor Liu in seine Gedanken. „Wir feiern Ihren Abschied, vorbei ist vorbei. Wir sollten alle in die Zukunft schauen.“
„Auf die Zukunft“, toastet der Fotograf Peng, der wie Dong Lian schon seit mehreren Jahren Rentner ist und extra für diesen Abend eingeladen wurde.
„Auf die Zukunft“, schließen sich alle anderen an. Hua Junshi hebt mechanisch sein Glas und trinkt mit seinen Kollegen.
* * *
Lao Zhang war ein guter Freund der Familie. Nachdem Hua Junshis Vater schon früh an einem Herzversagen gestorben war, nahm er sich der Familie an. Er kümmerte sich um die Kinder, vier an der Zahl, und vor allem um Hua Junshis Mutter. Er ging in dem Haus ein und aus, brachte sogar seinen kleinen Sohn oft mit. Schon damals hatte er eine hohe Stellung in der Stadtregierung Pekings inne gehabt. Und obwohl er fast sieben Jahre jünger war als Hua Junshis Mutter, schien es eine enge Verbindung zwischen den beiden zu geben. Oft blieb er über Nacht, weil, wie seine Mutter erklärte, seine Wohnung zu weit weg war, um abends noch nach Hause zu fahren. Lao Zhangs Frau wurde nie erwähnt und Hua Junshi fragte sich manchmal, ob sie vielleicht auch schon tot war. Dank Lao Zhang hatten seine Mutter, seine drei jüngeren Brüder und er selbst 1958 immer genug zu essen, als der Große Sprung nach vorn begann, bei dem die Bauern, statt zu säen und zu ernten, Eisen gossen. Manchmal sah seine Mutter in der Zeit aber auch sehr traurig aus. Hua Junshi fragte nie nach, für ihn war klar, dass sie den Tod des Vaters noch nicht verkraftet hatte. Lao Zhang besaß sogar einen Schlüssel für die Wohnung und kam und ging, wie es ihm passte. Wenn Lao Zhang allerdings zu viel getrunken hatte, bekam Hua Junshi Angst vor ihm. Manchmal hörte er seine Mutter dann leise weinen. Er traute sich auch hier nicht zu fragen, was los war, er hielt an dem Glauben fest, dass die Mutter den Vater vermisste und Lao Zhang manchmal einfach nicht die Stütze war, die die Mutter brauchte, vor allem, wenn der grad mit einem Schwips zu tun hatte.
Während der Kulturrevolution verschwand Lao Zhang für einige Jahre. Seine Mutter erklärte, er wäre in eine Kleinstadt versetzt worden, um dort für Ordnung zu sorgen, nachdem der dortige Bürgermeister als Konterrevolutionär entlarvt wurde. Da die Stadt in der Provinz Anhui lag und die Fahrt dorthin Tage dauerte, kam er nur selten nach Peking. Hua Junshi sah ihn nur zweimal in der ganzen Zeit, die Lao Zhang in Anhui war. Außerdem war er selbst auch schon viel zu beschäftigt, ebenfalls Konterrevolutionäre zu verfolgen. Er arbeitete schon seit drei Jahren bei der Polizei, als die Kulturrevolution begann. Zusammen mit den Roten Garden bildete die Polizei die ausführenden Organe, die die Politik und die Säuberungsaktion Mao Zedongs durchsetzten. Die Roten Garden spürten die Intellektuellen auf und agierten wie die Polizei: sie sperrten Leute ein, verhörten sie, stellten sie vor ein inoffizielles Gericht, was oft genug selbst aus Roten Garden bestand. Hua Junshi verhaftete ebenfalls alle, die auch nur dem geringsten Verdacht unterlagen, konterrevolutionär zu sein. Oft weigerten sich die Gefangenen, zu reden oder ihre Schuld einzugestehen. Und nicht selten wandte er Gewalt an, um es regelrecht aus ihnen herauszuprügeln. Die ersten Male fühlte er sich unwohl. Er war kaum zwanzig Jahre alt, wusste nicht viel über Recht und Unrecht, er wusste nur, dass Mao Recht hatte. Das genügte. Treu ergeben folgte er den Worten des großen Vorsitzenden. Und auch wenn er die geschwollenen Gesichter der Befragten sah und es ihn anfangs mit Übelkeit erfüllte, immer wieder in die schon gebrochenen Rippen und aufgeplatzten Kopfwunden zu treten und zu schlagen, wusste er, dass er das richtige tat, zum Wohle des chinesischen Volkes. Er verdiente sich bis zum Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 Respekt bei seinen Kollegen im Vierten Revier und stellte, davon ermutigt, unermüdlich Anträge zur Versetzung in die Kriminalkommission. Und Ende 1976 hatte er es geschafft. Er wurde Mitglied des Polizeistabs zur Aufklärung krimineller Vergehen.
Nun stand er am Ziel seiner Wünsche: an der Aufklärung eines Mordfalles mitzuwirken. Und ausgerechnet musste es ein Opfer sein, das ihm emotional nahe stand. Dong Lian hatte aufmerksam zugehört als Hua Junshi ihm alles erzählte, was er von Lao Zhang wusste und wie seine Verbindung zu ihm war.
„Dir ist klar, dass du wahrscheinlich nicht an diesem Fall mitarbeiten kannst, oder?“ musste Dong Lian ihn enttäuschen. „Du bist ja praktisch persönlich beteiligt.“
Davon wollte Hua Junshi nichts wissen und Dong Lian war es all die Jahre ein Rätsel, wie Hua Junshi es geschafft hatte, den damaligen Inspektor des Vierten Reviers zu überzeugen, zusammen mit Dong Lian und dem Vorgesetzten Liu diesen Mord übertragen zu bekommen. Aber er schaffte es. Vielleicht einfach durch die Tatsache, dass er gleich am ersten Tag wertvolle Informationen über Lao Zhang beisteuern konnte. Ohne viel Zeit verlieren zu müssen, konnten Dong Lian und Hua Junshi die ersten Befragungen durchführen.
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