»Ihr werdet diesmal aber nicht dieselbe Nummer abziehen, oder?«, fragte Matt sogleich.
»Ich meine, einfach zu verschwinden, oder so was.« Dennoch musste er bei der Erinnerung an den Abend lächeln. Damals war alles anders gewesen. So normal.
»Nein, Matt. Sicher nicht«, versicherte Irene ihm ernsthaft. Die Erinnerung entlockte auch ihr ein Lächeln.
»Natürlich kann ich nicht für Mel sprechen, denn die macht sowieso, was sie will, aber ich denke, diesmal klappt es. Sie wird die Rocky Horror Show genießen.« Dessen war sie sich sicher. Die Rocky Horror Show war genau Mels Ding. Sich schrill zu verkleiden, furchtbare Schuhe zu tragen, ja, dafür konnte ihre Freundin sich begeistern, auch wenn sie sonst eher nicht auf Trubel stand und Musicals nicht ausstehen konnte.
Matt stimmte zögerlich zu.
»Na gut, ich – ich ruf gleich Nick an. Der ist in Stormy Mills bei seiner Mutter. Vielleicht kann er schon früher herkommen. Wollte ihn sowieso über den Sommer herholen. Ich muss auch wirklich mal wieder einen Großeinkauf machen.«
Erleichtert nickte Irene. Einer Eingebung folgend, legte sie ihm die Hand auf den Unterarm.
»Ich bin froh, wenn du mitkommst. Ehrlich.« Sie schluckte, ehe sie fortfuhr.
»Ich – ich meine, ich fühl mich wohler, wenn du auch – dort bist.«
Er nickte knapp.
»Ja, klar. Keine Sorge.« Er dachte wieder an die verschwundenen Frauen. Für einen winzigen Moment wünschte er sich Julian an seine Seite, doch der hatte sich seit Weihnachten nicht mehr gemeldet. Matt hoffte, dass ihr Freund sich bald dazu aufraffen konnte, zurückzukehren um alle Missverständnisse, sofern es die gab, aus dem Weg zu räumen.
Manchmal mussten die Menschen einfach nur miteinander reden, es war an der Zeit, dass auch Julian das begriff, doch er, Matt war nicht der Richtige, um es dem sturen City Slicker begreiflich zu machen.
Matt beschloss, dass es eine gute Idee war, Irene in die Stadt zu begleiten. So konnte er zumindest die Frauen im Auge behalten. Ken Larsson bei diesem Vortrag zu wissen, beruhigte ihn zusätzlich, obwohl er nicht wusste, inwieweit Irene erkannte, dass der Rancher ein Auge auf sie geworfen hatte.
In der Nähe von Shannon, zwei Tage später
Julian schreckte hoch. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass er sich in seinem Wohnwagen befand.
Wie war er hier rein gekommen? Er konnte sich nicht erinnern. In seinem Arm pochte ein dumpfer Schmerz und sein Kopf dröhnte.
Er setzte sich auf und blickte auf den Radiowecker, den er auf dem kleinen Küchentresen platziert hatte. Die grünen digitalen Leuchtziffern zeigten ihm, dass es kurz nach zwölf Uhr Mittags war.
Hastig stand er auf und bereute es sofort, denn der Innenraum seines Wohnwagens begann sich, um ihn zu drehen.
Stöhnend ließ er sich auf sein Bett zurückfallen.
Was zum Teufel hatte er gestern gemacht? Oder besser gesagt, was hatte er bloß getrunken?
Mühsam rief er sich die Ereignisse des Vortages in Erinnerung. Sie waren gestern am Nachmittag wieder bei Will zuhause in Sheridan gewesen. Nachdem sie eine Pizza bestellt und Bier geöffnet hatten, hatte Will mit ihm über Eagleside gesprochen.
Der ältere Mann war der Meinung, dass Julian sich selbst im Weg stand. Er hatte Julian nicht gefragt, weshalb er die Rückkehr so lange hinauszögerte, aber er hatte klargestellt, dass Julian sich der Verantwortung stellen sollte, die eine ‚Familie‘ wie er es ausdrückte, mit sich brachte. Ganz besonders nach dem Schrecken und dem Leid, dass der Wendigo über ihn und seine Freunde gebracht hatte. Eindringlich hatte er ihn darauf hingewiesen, dass er auf Eagleside gebraucht wurde – und dass er auch Matt und Irene brauchte, und nicht so stur sein sollte.
Julian, der nicht wusste, wie er Will begreiflich machen sollte, dass er Probleme hatte, Irene nach dem schrecklichen Erlebnis gegenüberzutreten, hatte versucht, einer Antwort auszuweichen. Dass Will sich damit nicht abspeisen ließ, war von vorneherein absehbar gewesen, doch das änderte nichts an Julians Problemen mit Irene.
Als sie nach dem Schrecken mit der indianischen Legende endlich zuhause auf Eagleside gewesen waren, hatte Irene Julian in seinem Wohnwagen aufgesucht, um mit ihm zu sprechen. Sie war durcheinander gewesen, und hatte jemanden zum reden gebraucht. Matt war zu der Zeit noch im Krankenhaus, und sie mutterseelenallein im großen Rancherhaus. Deswegen hatte sie versucht, ihn dazu zu überreden, im Haus zu schlafen. Dabei waren sie sich näher gekommen, als je zuvor. Doch ehe sie die Dinge klären konnten, hatte er sich von ihr abgewandt und war wenige Tage danach abgereist. Verwirrt, von der Vergangenheit eingeholt und nicht sicher, wie es weitergehen sollte, war er zu Will gefahren, ohne sich näher mit Irenes Gefühlen und Matts Verletzung zu beschäftigen. Irene hatte ihm zwar gesagt, dass er die Wahl hatte. Dass er einfach mit der Vergangenheit abschließen sollte, damit er die Gegenwart willkommen heißen konnte, doch er hatte den Spieß umgedreht, und sie mit ihren eigenen Ängsten und unerledigten Dingen konfrontiert. Eine schäbige Aktion von ihm, doch anders hätte er die Ranch nicht verlassen können. Es stimmte nämlich. Er war dort zuhause, zumindest fühlte es sich annähernd wie ein Zuhause an, aber nun hatte er Angst, dorthin zurückzukehren.
»Du bist ein Feigling«, sprach er zu sich selbst, während er Kaffee in den Filter seiner kleinen Kaffeemaschine füllte. Will hatte recht. Er stand sich selbst im Weg.
Der ältere Mann hatte versucht, ihm väterlich zuzureden, doch Julian war auf seine Argumente nicht eingegangen. Irgendwann hatte Will einen seiner besten Whiskys hervorgeholt und ihm eingeschenkt. Ein Glas nach dem anderen war geleert worden, während sie diskutierten.
Julian erinnerte sich noch daran, wie Will meinte, es wäre an der Zeit, ins Bett zu gehen, doch danach verschwamm alles.
»Verflucht noch mal.« Ihm fiel ein, dass er neben dem Alkohol auch starke Medikamente gegen die Schmerzen eingenommen hatte. Dieser Mix hatte ihn schachmatt gesetzt. Wie hatte er so blöd sein können?
Aber weshalb hatte Will ihn nicht, wie gewohnt, aus dem Bett geworfen? Ob er selbst noch schlief?
»Nein, auf keinen Fall.« Will war normalerweise ein Frühaufsteher, einer der schon um fünf Uhr seinen ersten Kaffee trank und in seinem Haus herumwerkelte.
Stirnrunzelnd warf er einen Blick zum Fenster hinaus und erstarrte.
»Was zum Teufel?«
Vor dem Fenster erstreckten sich hohe Bäume in den Himmel. Hohes Gras wog sanft im Wind und die Strahlen der Sonne fielen schräg durch das dichte Geäst und zauberten helle Muster auf einer mit unzähligen Blumen übersäten Wiese.
Nichts was er vor seinem Fenster aus sah, hatte mit Wills Grundstück auch nur im entferntesten, Ähnlichkeit.
Hastig riss er die Tür von seinem Wohnwagen auf und sprang, den dumpfen Schmerz in seinem Kopf ignorierend, hinaus.
Das Erste, was er sah, war ein gemauertes Toilettenhäuschen.
»Fantastisch«, murmelte er.
In einiger Entfernung erkannte er zwei Picknicktische mit dazugehörigen Bänken. Er befand sich auf einem Rastplatz irgendwo im Nirgendwo.
Was war passiert? Weshalb war er hier gelandet und wo trieb Will sich herum?
»WILL!«, brüllte er so laut, dass seine Stimme über den Rastplatz hallte. Doch der ältere Mann tauchte nicht auf.
Was zum Teufel war hier los? Verwirrt suchte er die Umgebung nach Wills altem Ford ab, doch auf dem kleinen Parkplatz befand sich, neben seinem Wohnwagen nur mehr ein riesenhafter blauer Truck.
Ein kräftiger Mann mit einem gewaltigen Bart stieß die Tür des Sattelschleppers auf und stieg über das Trittbrett hinunter. Er nickte Julian zu.
»Na, ausgeschlafen? Du hast Glück, heute ist keiner von der Highway Patrol unterwegs um uns Reisenden das Leben schwer zu machen.«
Читать дальше