Schweigend beobachtete er das Geschehen ringsherum. Er sog die Gefühle aller Anwesenden gierig in sich auf. Ein Pflaster voller Leid, Hass und Neid ... und Träume.
ER konnte die Schwärze spüren, die einige von ihnen auffraß. Ja, die Menschen waren voller Widersprüche. Nur Wenige hier waren tatsächlich frei von Neid, Hass und Habsucht.
ER hatte die Worte wahrgenommen, die das dunkle Weib mit der goldenen Schönheit gewechselt hatte. Das war ein schlechtes Gespräch gewesen. Seine Energien hatten den Raum durchflutet, wie zähe, dunkle Fäden.
Die junge Frau hatte unbeachtet von allen gelitten. Schmerz und Trauer hatten sich aus ihrer Seele herauskristallisiert. Sie war traurig, verwirrt und voller Selbstzweifel. Bevor das Böse in der anderen Frau sein Gift genügend verteilen konnte, war ihr der blonde, große Mann rechtzeitig zu Hilfe gekommen.
Fast hätte ER die Bösartigkeit des anderen Weibes in sich aufgesogen und sie aus der Menge herausgerissen, doch dann erinnerte er sich, weswegen er hierher verbannt worden war. Er hatte sich dem großen Marid beugen müssen und nun war er in der kalten, fremden Welt, und musste überleben.
Sorgfältig tastete er nach den Wünschen der Frau mit den goldenen Haaren. Ihre Wünsche waren verschleiert, und das ärgerte ihn. Sie musste nichts verbergen.
Ihre Gestalt entsprach den Edelfrauen aus seinem Reich. Sie war umgeben von gleißendem, warmen Licht. Gleich einer Motte fühlte er sich zu ihr hingezogen. Er, der aus Feuer entstanden, fühlte ihre Macht.
Ihre Energie musste sehr stark sein, wenn sie ihre Träume derart gut vor ihm verbergen konnte. Dennoch witterte er den Hauch der Selbstaufopferung, der hinter dem Schleier lauerte. Das war nicht gut, denn dadurch würde ihre Seele immer in diese kalte Welt zurückfinden und sie für ewige Zeit hier festhalten. Von all dem wusste Irene natürlich nichts. Sie lauschte dem Vortrag, machte sich Notizen und war ausgesprochen erleichtert, als es kurz nach halb zwei Uhr nachmittags vorüber war.
Es gelang ihr, ein paar Fragen an Peter Lewis zu stellen, der freundlich und hilfsbereit antwortete. Damit hatte sie der Sache genüge getan.
Ken Larsson musste dringend zurück nach Moosecreek und verabschiedete sich rasch von Irene. Ein weiteres Mal lud er sie zu sich auf seine Ranch ein. Diesmal stimmte sie zögernd zu, und versprach, sich im Laufe der nächsten Woche bei ihm zu melden. Was konnte auch passieren? Er interessierte sich womöglich für sie, doch bedrängte sie nicht. Außerdem mochte sie ihn und war neugierig auf seine Pferde. Ken hatte die schönsten Paints im County.
Nach ein wenig Smalltalk mit diversen Ranchern verabschiedete sich auch Irene und eilte zurück in ihr Hotel. Dort würde sie in Ruhe den Bericht abtippen und ihn morgen noch mal überarbeiten, ehe sie ihn bei der Tribune ablieferte. Danach war sie mit Melanie zum Shoppen verabredet.
Noch während sie die kurze Strecke zum Fairmont Inn zu Fuss zurücklegte, kramte sie ihr Mobiltelefon hervor. Drei Nachrichten warteten auf sie.
Eine war von Mel, die von ihrem Friseurbesuch zurückgekehrt war und ungeduldig auf sie im Hotel wartete. Zwei waren von Matt. Auf der Mobilbox hatte er die Nachricht hinterlassen, dass er unterwegs war und noch nicht genau sagen konnte, wann er wieder im Hotel sein würde. Die zweite Nachricht war eine SMS, indem er ihr schrieb, dass er gerade von Pinedale zurückfuhr und gegen vier wieder in Cedars sein würde.
Etwas enttäuscht tippte sie eine Nachricht, in dem sie ihm mitteilte, dass sie ab jetzt bis am Abend wohl mit Melanie unterwegs sein würde und dass der Vortrag überstanden war.
Sie hatte gehofft, mit Matt im Hotel zu essen, doch da konnte man eben nichts machen.
Nachdenklich begab sie sich auf ihr Zimmer. Was tat Matt überhaupt in Pinedale?
Irgendwann, wenn sich die Möglichkeit ergab, würde sie ihn einfach fragen, doch im Augenblick freute sie sich darauf, mit Melanie loszuziehen.
Als Irene das Zimmer betrat, sah ihre Freundin sich völlig entspannt Dirty Dancing im Fernsehen an. Johnny verpasste Rob, dem Kellner, gerade einen Kinnhaken und Melanie lächelte zufrieden.
»Siehst du, Johnny ist ein wahrer Held. Er verteidigt Babys Ehre und der schlechte Kerl wird bestraft.«
Irene schluckte. Diese Szene beschwor ungewollte Erinnerungen hinauf. Julian hatte im Vorjahr ihren Ex John ebenfalls eine gescheuert, nachdem er sich äußerst bösartig über Irene und die Männer auf ihrer Ranch geäußert hatte.
»Ähm, ja, ich – ich beende den Bericht noch schnell und dann muss ich nur noch ein Päckchen für einen Kunden fertigmachen. Danach können wir los.«
Mel nickte abwesend. Die Handlung nahm sie völlig gefangen, weswegen sie nicht bemerkte, wie Irene eine mittelgroße Schachtel aus dem begehbaren Schrank heraushob und sie mitten am Bett platzierte. Vorsichtig lugte sie unter den Deckel und lächelte zufrieden.
»Sehr fein, ich werd zuerst das hier gut verschnüren.«
»Alles klar. Ich bin soweit fertig. Mach du nur.«
Irene nickte zufrieden.
»Okay, dann beeil ich mich mal lieber.«
Mistydew County – Cedars
Knapp eine halbe Stunde später saß Julian neben Matt im Auto.
Matt fuhr so zügig, dass Julian mehrmals um seinen Trailer fürchtete. Bei jeder Kurve rechnete er damit, dass er umkippte. Matt schraubte sein Tempo nur zurück, wenn die Kurven zu eng wurden. Mehrmals schwankte der Trailer gefährlich, doch nichts passierte.
Wie üblich hatte der Cowboy das Schweigen perfektioniert und Julian war nicht nach Reden zumute. Er kämpfte mit den Bildern des Erlebten. Das Mädchen in der Badewanne hatte zwar überlebt, doch niemand wusste, wie ihre Geschichte weiterging.
Ich weiß nicht mal, wie meine Geschichte weitergeht, dachte er, während sie über gewundene Straßen fuhren.
Pinedale lag am Pine Creek, einem kleinen Fluss, der durch die etwas flachere Waldlandschaft, zu Füßen der Mistydew Mountains floss.
Es war ein hübsches Städtchen mit netten Antebellum Häusern.
Diese Art Häuser waren im Mistydew County eher eine Seltenheit. Deswegen war die Main Street auch ganz besonders interessant, doch weder Julian noch Matt hatten im Augenblick ein Auge für die Schönheit der Ortschaft.
Ganz am Ende der Main Street bog Matt in eine schmale Seitengasse ein.
»Trey wird auf den Trailer achtgeben. Du solltest – naja, du solltest nichts Auffälliges drin lassen, also falls du so etwas hast.«
Julian nickte und deutete auf den Rücksitz, wo seine Reisetasche stand.
»Ich hab alles gepackt, was ich brauche.«
Kurz darauf hielt Matt vor einem großen offenen Garagentor. Ein muskulöser Typ, etwa Mitte zwanzig in einem blauen Arbeitsoverall trat aus dem Halbdunkel hervor und nickte ihnen zu. Seine indianische Herkunft war unverkennbar. Nach einem weiteren Blick auf den uralten Wohnwagen deutete er mit einem Nicken hinter sich.
»Hab dort Platz gemacht. Reinfahren müsst ihr ihn selbst.«
Der Kerl hatte den Charme eines Gorillas, doch zumindest gab es eine Garage.
Ob sein Trailer sicher war? Hastig überlegte Julian, ob er alles Wichtige rausgenommen hatte.
»Vergesst nicht, das Ding in ein paar Tagen wieder abzuholen.«
Julian hätte fast eine dumme Bemerkung gemacht, doch Matt rempelte ihn dezent an.
»Halt dich bloß zurück«, murmelte er. »Unterschätze ihn nicht. Er stammt aus dem Reservatsgebiet der Wolf Mountains der Absarokee und lässt sich nicht gerne verarschen.«
Matts verkniffenem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er sich nicht allzu wohl in Treys Gegenwart fühlte. Seltsam, in Anbetracht der Tatsache, das sie angeblich Freunde waren.
»Bist du sicher, dass der Trailer hier gut aufgehoben ist?«, flüsterte Julian ihm misstrauisch zu. Er fand den Kerl ein bisschen zu unfreundlich.
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