Matt winkte dem Kellner und bestellte zwei Bier.
»Hör auf so zu grinsen. Diese Aktion passt irgendwie nicht zu ihr, also hoffen wir das Beste. Sie war ja auf diesem Vortrag. Dort scheint alles gut gelaufen zu sein. Ken Larsson hat sie aus einer Zwickmühle befreit.« Kaum war es heraußen, wünschte er, er hätte nicht ausgerechnet jetzt von dem Rancher angefangen, doch Julian hatte aufgepasst.
»Wer ist Ken Larsson?«
Matt seufzte.
»Ach, so ein Rancher aus Moosecreek. Netter Typ. Irene kauft ein Pferd bei ihm, wenn es dem Fohlenalter entwachsen ist.«
»Aha«, war alles, was Julian dazu einfiel.
Matts Zögern fiel ihm dennoch auf.
»Er steht auf sie, stimmt’s?«, fragte er gerade heraus.
»Schwer zu sagen.« Matt zuckte mit den Schultern. »Kann sein, aber es macht keinen Unterschied, weil sie sich nicht auf irgendwelche Rendezvous einlässt. Sie geht nicht aus, hat sich in den letzten Monaten auf der Ranch eingenistet, als gäbe es keine andere Welt rundherum.«
»Rendezvous? Dieses Wort gibt es noch immer?« Julian grinste.
»Sie verabredet sich nicht, hat nie ein Date. Mann, nenn es doch, wie du willst«, grummelte Matt missmutig.
Kaum standen die Getränke am Tisch, piepste sein Telefon erneut.
Eine weitere Nachricht von Irene. Matt las sie rasch, ehe er erleichtert aufatmete.
»Gott sei Dank. Sie haben es geschafft.«
Julian grinste und hob sein Bier an.
»Darauf trinken wir.«
Für einen Moment fiel die leichte Anspannung von Matt ab, die ihn beherrscht hatte, seit sie bei Trey Carter gewesen waren.
»Sie werden bald hier sein, Jul. Überleg dir schon mal, was du sagst.« Er hatte noch keine Möglichkeit gefunden, Irene vorzuwarnen. Sollte er eine Nachricht schreiben? Sie anrufen? Irgendwas in der Richtung? Er war ratlos. Was würde geschehen, wenn sie auftauchte, und Julian hier sitzen sah?
Julian, der ihm seine Unsicherheit anmerkte, hob sein Glas erneut an.
»Keine Sorge, Matt. Lass sie einfach kommen. Mehr als davonlaufen kann sie nicht, und wenn sie das tut, renn ich ihr hinterher. Du weißt ja, ich bin schneller, auch mit dieser Schulter.«
Matt rieb sich über die Stirn.
»Ach, ich weiß nicht. Ich kann sie nicht mehr so gut einschätzen wie früher. Sie ist anders. Hat sich mehr in sich zurückgezogen, seitdem ...« Wieder sprach er es nicht aus, doch Julian hatte genug davon.
»Was ist? Sind wir hier bei Harry Potter?« Er verlieh seiner Stimme einen dumpfen, unheilvollen Klang.
»Lord Voldemort, der dunkle Lord.« Dann wurde er ernst. »Sag es einfach, okay? Sag einfach: seit der Wendigo uns gejagt und Asku getötet hat.« Er sah sich bewusst übertrieben um.
»Siehst du? Nichts ist passiert! Er kommt nicht wieder. Der Wendigo kommt nicht wieder.«
Matt erstarrte.
»Du hast keine Ahnung, was los ist, oder?«, sagte er leise. »Du warst weg, einfach so!« Seine Stimme wurde ein wenig lauter, doch er vermied es, zu schreien. Dennoch war er aufgebracht.
»Wir hätten so viele Fragen gehabt, hätten dich hier gebraucht, damit du uns erzählst, was los ist. Wir hatten nur uns, verstehst du? Irene und ich hatten nur uns! Wir konnten mit niemand anderem darüber reden, was passiert ist, weil es hier niemanden gibt, dem wir die Wahrheit hätten erzählen können! Ist dir klar, was das heißt? Wochenlang haben wir die Story von einem Grizzlybären aufrechterhalten. Polizei, Ranger, Reporter – die Hölle war los. Tage – Nächtelang sind die Telefone heiß gelaufen. Irene ist für einige Tage nach Pinedale zu Melanie geflohen, sie hat die Festnetznummer der Ranch geändert, falls du das mitbekommen hast. Falls du dich überhaupt dafür interessiert hast! Nur weil Irene bei der Cedars Tribune arbeitet, haben wir hier wieder Ruhe. Lambeck hat sich dafür starkgemacht, uns sämtliche Reporter vom Hals geschafft, doch dafür hat Irene den Exclusiv–Bericht geschrieben. Verstehst du, was das für ein Opfer ist? Sie, die hauptsächlich in den Rancher- und Cowboymagazinen Artikel über Pferde, Ernten, Rancherproblematiken schreibt, hat in wenigen Stunden einen Bericht über einen Grizzlybären geschrieben, der einen alten Freund von ihr getötet hat.«
Julian schwieg. Was in ihm vorging, konnte niemand erkennen. Doch in seinem Inneren tobte ein Sturm der Gefühle. Er wusste genau, wie traumatisiert man nach einem solchen Erlebnis war, wie sehr ein Mensch an solchen Dingen zerbrechen konnte. Niemals hatte er gewollt, dass Irene ein solches Los wiederfuhr. Kein Mensch sollte so etwas Schreckliches erleben müssen.
Matt lehnte sich über den Tisch. Seine Augen funkelten bedrohlich.
»Sie hat Albträume, hat die ganze Zeit über die Ranch nicht mehr verlassen. Etwas in ihr ist zerbrochen und du warst nicht hier, um zu helfen!«
Matt hatte es endlich ausgesprochen. Die Anspannung, die sich die ganze Zeit zwischen ihnen aufgestaut hatte, verpuffte endlich.
Julian erstarrte merklich. Seine Kiefermuskeln verhärteten sich.
Er nahm sein Bier und trank es in einem Zug aus, ehe er seinen Sessel zurückschob und sich erhob.
»Ja, ich weiß. Ich weiß genau, was passiert, wenn man zerbricht.«
Er nickte knapp. Seine Gesichtszüge wirkten hart im blauweißen Licht der Bar.
»Doch ich setze etwas Wichtiges voraus, dass dir anscheinend nicht klar ist. Wenn etwas zerbrochen ist, dann kann man immer noch versuchen, es zu reparieren.«
Nach diesen Worten verließ er die Hotelbar und ließ Matt betroffen zurück.
Besorgt sah er ihm nach. Das konnte noch heiter werden. Julian war wieder da und Irene wusste noch nichts davon, und er saß hier allein herum, und musste sich überlegen, wie er es ihr beibringen sollte.
Wieso nur hatte er so heftig reagiert? Immerhin war Julian hierher mitgekommen, und weshalb sollte er das tun, wenn er nicht vorhatte, zu bleiben?
Mel und Irene – Unterwegs in Cedars/Downtown
Nachdem Irene das Büro von ihrem Ex fertig dekoriert hatte, befanden sich die beiden Frauen wieder unbehelligt auf der Straße vor dem Gebäude.
Melanie legte ihren Kopf in den Nacken und musterte nachdenklich den hohen gläsernen Bürokomplex mit den achtzig Stockwerken. Der Chase–Tower in Cedars war eines der höchsten Bauwerke der Stadt, doch davon war Mel nicht sonderlich beeindruckt.
»Unfassbar dass dort drinnen so viele Leute zusammenarbeiten wollen. Also ich würde vermutlich durchdrehen.«
Dann wandte sie sich Irene zu, die soeben grinsend eine Nachricht in ihr Telefon tippte.
»Ernsthaft? Du hast gerade eine halbe Straftat begangen und nun stehst du seelenruhig herum und schreibst SMS, obwohl gleich irgendein bärbeißiger Typ herausstürmen, und uns zu Rede stellen könnte?« Nervös heftete sie ihren Blick auf die gläserne Schwingtür.
»Bleib locker.« Hastig suchte Irene sich das Bild heraus, das sie vom dessousgeschmückten Büroraum ihres Ex gemacht hatte, und fügte es ihrer kurzen Nachricht hinzu.
»Ich will nur Bescheid geben. So, aber jetzt.« Zufrieden drückte sie auf Senden, während Mel ihr entsetzt über der Schulter zusah.
»Irene, wem hast du das Foto geschickt?«, fragte Melanie alarmiert.
»Na wem wohl? Matt natürlich.«
»Du willst ihn tatsächlich damit ärgern?«
»Na komm schon. Er soll auch etwas davon haben.« Es stimmte. Melanie hatte recht. Sie wollte Matt damit ein bisschen ärgern, auch wenn sie genau wusste, dass er es nicht unkommentiert lassen würde. Allerdings wollte sie ihn damit auch ablenken, ihn aus der Reserve locken. Die letzte Zeit war schwer für sie beide gewesen. Ihre Racheaktion konnte sie auch nicht erklären, es war einfach so über sie gekommen.
»Matt wird garantiert etwas sagen. Darauf kannst du Gift nehmen!«
Irene nickte ergeben.
»Ja, mit diesem Risiko muss ich halt leben. Mal sehen was wir zu hören bekommen.«
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