„Also Demi, wie würdest du diese Aufgabe lösen?“ drang die Stimme der Lehrerin wie durch Nebel.
Erschrocken sprang das Mädchen auf und stieß dabei an ihren Stuhl, der daraufhin donnernd zu Boden fiel. Dies führte zu lautem Gelächter. „Ähm, ich … „ stotterte Demi.
„Na, komm an die Tafel. Und ihr anderen Ruhe!“ half ihr die Lehrerin aus der Verlegenheit.
Mit hochrotem Kopf nahm das Mädchen die Kreide entgegen, besah sich die Aufgabe und schrieb sowohl Rechenweg als auch Lösung an die Tafel. „Sehr gut“, kommentierte Frau Weiß ihre Arbeit und schickte sie mit einem leichten Nicken zurück auf ihren Platz.
In Mathe konnte sich Demi immer retten, da dies ein Fach war, welches nicht ihre volle Konzentration erforderte, sobald sie einmal verstanden hatte, worum es ging. Bis die Lehrerin die Klasse verließ, war das Mädchen ganz bei der Sache.
Durch Geschichte und Englisch schaffte sie es ebenfalls, ihre Aufmerksamkeit dem Lehrstoff zu widmen, da sie um keinen Preis nochmal zum Gespött der ganzen Klasse werden wollte.
Gegen Mitte der Deutschstunde jedoch drifteten ihre Gedanken wieder ab.
Warum waren damals so viele seltsame Leute zu ihnen nach Hause gekommen, warum hatte ihre Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen und auch Demis Nachnamen auf Richter ändern lassen? Warum waren sie nicht nur aus dem Haus ausgezogen, sondern gleich aus der Stadt? Das mit dem Haus hatte Ma ihr erklärt. Es war einfach zu teuer, denn die Bankkonten waren vor seinem Verschwinden von ihrem Vater restlos geplündert worden. Aber sonst hatte die Mutter nur gesagt, sie wisse auch nicht, was passiert sei.
„Vielleicht kann uns Fräulein Richter die Antwort auf diese Frage erläutern!“ meinte Herr Wolf soeben in ziemlich scharfem Ton.
Diesmal war Demi gelassener, um nicht wieder einen Anlass zur allgemeinen Belustigung zu liefern.
„Nun ja, das kommt ganz auf die Betrachtungsweise an!“ entgegnete sie zögernd. “Dann sei doch so freundlich und teile deine Betrachtungsweise mit uns! Weshalb hatte der Junge in Thomas‘ Geschichte plötzlich so großen Erfolg in der Schule und bei seinen Mitschülern?“
„Vielleicht, weil er plötzlich netter wurde?“ rutschte e ihr spontan heraus. Kopfschüttelnd betrachtete Herr Wolf sie mit dem für ihn typischen, stechenden Blick. Dann tat er mit lehrermäßiger Überheblichkeit seine, natürlich einzig richtige, Antwort kund. „Nein, er erkannte, dass ein Weiterkommen nur möglich ist, wenn er sein Leben selbst in die Hand nimmt!“
„… selbst in die Hand nimmt“ echote Demi.
Das war die Lösung! Sie konnte nicht darauf warten, dass ihr irgendjemand alle Antworten zu ihren Fragen auf einem silbernen Tablett lieferte. Sie musste selbst nach Lösungen suchen. Das war es! Warum hatte sie diesen Gedanken nicht längst selbst gehabt?
„Setz dich, Demi und pass gefälligst besser auf.“
Mit gesenkten Lidern und der Andeutung eines Lächelns auf ihrem sommersprossigen Gesicht setzte sich Demi und beschloss, gleich nach der Schule zur Zentralbibliothek zu gehen, um mit Herrn Gruber zu sprechen.
Eigentlich war dies der ungünstigste Wochentag dafür, denn nach der letzten Schulstunde hatte sie noch Klavierunterricht. Dieser wurde von der Schule kostenlos angeboten und im Anschluss konnte sie die erlernten Stücke im Musiksaal üben, da sie selbst kein Instrument besaß. Demi wusste, dass sie nicht sonderlich begabt war, aber ihre Mutter bestand auf den Unterricht. Deshalb quälte sie sich auch diesmal durch die Stunde und übte danach noch unter den strengen Blicken der Musiklehrerin, Frau Grötschl.
Als sie das Schulgebäude verließ war es bereits später Nachmittag und dem Mädchen war klar, dass viel Arbeit zu Hause auf sie wartete. Die Hausaufgaben waren zu machen, saugen musste sie und das Geschirr vom Frühstück stand auch noch auf der Spüle. Trotzdem wollte sie kurz bei Herrn Gruber vorbeischauen, denn sie musste einfach mit jemandem sprechen. Auf der kurzen Strecke zur Bibliothek hoffte Demi, dass der alte Mann heute Nachmittagsdienst hatte und nicht anderweitig beschäftigt war.
II. Ein hoffnungsvoller Ausflug
Demi war eine richtige Leseratte und Bücher waren teuer. Deshalb kam sie mindestens einmal die Woche hierher, um sich neue Lektüre auszuleihen. Auf der Suche nach der Fortsetzung eines sehr spannenden Buches hatte sie Herrn Gruber kennengelernt und war mit ihm ins Gespräch gekommen. Seitdem hatte sie schon so manchen Nachmittag mit dem alten Herrn über Bücher diskutiert oder einfach nur geplaudert.
Herr Gruber war ein opamäßiger, rotgesichtiger Mann, der mit Pantoffeln durch die riesigen Hallen der Bibliothek schlurfte. Er wirkte fast immer griesgrämig, obwohl er eigentlich total nett war.
„Ah, du! Brauchst du etwa schon wieder Nachschub?“ fragte er mit strengem Blick. Demi lächelte. Sie wusste, dass der Alte diese schroffe Art nur schauspielerte. Schelmisch hob sie ihre Augenbrauen und legte den Kopf schief. „Nein, eigentlich suche ich Sie heute in ihrer Eigenschaft als Informationsquelle zu allen Lebensfragen auf“ erklärte sie spitzbübisch.
„Wie alt bist du? Anhand deiner Ausdrucksweise könnte man dich schon für ziemlich alt halten. Na, dann schieß mal los!“
„Tja, also ich habe beschlossen, ab heute mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber ich weiß nicht, wie ich damit anfangen soll. Und Sie werden mich nicht auslachen, wenn ich Sie um Rat frage“ endete Demi schüchtern.
Herr Gruber sah sie lange und ernst an. Gerührt legte er ihr dann einen Arm auf die Schulter und räusperte sich leicht. „Dann komm mal mit in mein Allerheiligstes, wenn du schon so viel Vertrauen in einen alten Griesgram wie mich setzt.“
Genau das war es, was sie so an Herrn Gruber mochte. Er fand nichts lächerlich, unwichtig oder tat es als „Kinderkram“ ab. Er behandelte sie, als ob er einen Erwachsenen vor sich hätte.
Das „Allerheiligste“ war ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch und zwei Stühlen. Es gab nicht einmal einen Computer. Herr Gruber weigerte sich strikt, eines dieser Dinger in sein Büro zu stellen, um damit die Schönheit seiner Bücher zu verschandeln. Da er seine Arbeit jedoch längst nicht mehr komplett ohne verrichten konnte, stand ein passwortgeschützter PC gleich um die Ecke. Die Regale an den Wänden waren bis zur Decke vollgestopft mit Büchern und Akten. Demi setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, Herr Gruber auf den dahinter. „Also, dann erzähl mal, wofür du meinen Rat benötigst.“
Demi erklärte ihr Problem und der alte Mann zupfte an seinem kurzen, weißen Bart. Nachdem sie geendet hatte, schüttelte er den Kopf und das Mädchen befürchtete, dass ihre Suche nach Antworten schon gescheitert wäre, ehe sie noch richtig begonnen hatte.
„Hm“, murmelte der Bibliothekar und nochmal „hm“ während er weiterhin den Kopf schüttelte. Demi konnte schon nicht mehr still sitzen, wollte sein Grübeln beenden, aber als sie den Mund öffnete, schüttelte Herr Gruber den Kopf nur umso eindringlicher und gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.
Dem Mädchen kam es wie eine Ewigkeit vor, bis der alte Herr anfing zu sprechen. Er begann, als wollte er ein Märchen erzählen.
„Vor vielen Jahren lernte ich einen Jungen kennen, der damals etwa in deinem Alter war. Dem ging es aber längst nicht so gut wie dir…“ begann Herr Gruber und fuhr mit schärferer Stimme fort, als sie ansetzte, ihn zu unterbrechen.
„Es ging ihm also längst nicht so gut wie dir. Denn seine Eltern und sein älterer Bruder waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und er wuchs in einem Waisenhaus auf. Ich habe damals die Bibliothek dort ehrenamtlich verwaltet und so lernte ich diesen jungen Mann kennen. Wir sahen uns oft, denn er verbrachte fast seine gesamte Freizeit mit Lesen und kam deshalb immer, um Nachschub zu holen. Am besten gefielen ihm Kriminalromane.“ Demi unterdrückte ein Gähnen. Falls Herr Gruber ihr aufzeigen wollte, wie gut es ihr im Vergleich zu manch anderen Kindern ging, war dies der falsche Augenblick! Als sie jedoch ins Gesicht des Mannes blickte, sah sie, dass er in Gedanken weit weg war, bei schönen Momenten aus lang vergangenen Tagen. Deshalb wollte sie ihm aufmerksam zuhören, auch wenn seine Geschichte sie zu Tode langweilen würde.
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