1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Nur nicht nachdenken, du stehst noch unter Schock. Alles ist in Ordnung.
Plötzlich prasselte hartes Eis gegen die Scheibe und etwas Schweres traf die Beifahrerseite. Das Auto wurde heftig durchgerüttelt, und Irene schrie auf, während sie sich auf dem Armaturenbrett abstützte.
»Verfluchte Scheiße!« Julian nahm sich nicht die Zeit, in den Rückspiegel zu sehen.
Wie eine Masse aus Eis und Schnee wischte etwas Schweres an dem Auto vorbei.
Was es genau war, würden sie nicht mehr herausfinden, denn Julian stieg aufs Gas.
Die Reifen drehten sofort auf dem schmierigen Asphalt durch, der Motor heulte laut auf, doch Julian ließ nicht nach! Er betätigte weiterhin dosiert das Gas, bis er spürte, dass die Reifen endlich griffen. Im gleichen Atemzug schlug Julian mit dem Lenkrad ein, und ergriff die Handbremse. Irene schrie vor Schreck, als der Wagen sich um hundertachtzig Grad drehte und über die schmierige Straße driftete. Panisch klammerte sie sich an den Sitz und schloss die Augen.
Erst als ihr bewusst wurde, dass sie nicht irgendwo gegen einen Baum gekracht – oder über die Böschung gestürzt waren, öffnete sie die Augen wieder.
Sie war kaum in der Lage, Erleichterung zu empfinden, denn ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Was passierte gerade? Oder besser gesagt, was WAR gerade passiert?
Julian lenkte das Auto trotz des beträchtlichen Schneefalls sicher über die inzwischen gefährlich glatte Straße.
Nach einer Weile bemerkte Irene, wie die Spannung endlich von ihm abfiel. Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite her zu, ehe er tief durchatmete.
»Wir fahren zurück nach Stormy Mills.« Er sagte es mit ruhiger, monotoner Stimme. Das hatte er vorher schon erwähnt und es klang richtig.
»Gut«, krächzte Irene mühsam und ließ sich erschöpft in den Sitz zurückfallen.
Ein Anflug von Schuldbewusstsein meldete sich in ihr. Es ist wegen mir passiert. Ohne ihren unnötigen Abstecher in die Stadt wären sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Auf einmal war sie heilfroh, Julian an ihrer Seite zu haben.
Zurück in Stormy Mills
Julian fuhr vorsichtig, aber sicher über den 93er Highway zurück. Insgeheim bewunderte Irene ihn dafür, denn sie hätte nicht mehr so fahren können.
In der Ferne nahm sie unscharf die Umrisse der ersten Häuser von Stormy Mills wahr, und atmete erstmal durch. So war es sicher besser, außerdem hatte der Schneefall an Intensität zugenommen.
Irene wurde nicht bewusst, dass sie im Augenblick das Entsetzen, das sie erlebt hatte, verdrängte. Stattdessen kreisten ihre Gedanken um Belangloses. John, Melanie, der blöde Kinofilm.
Das war ja wieder mal typisch für sie. Wieso hatte sie sich auch eingebildet, unbedingt ins Silverdime Theatre zu gehen? Entgegen jeder Vernunft und ohne an das Risiko zu denken, wie immer.
Nicht wie immer, flüsterte eine Stimme.
Es ist wegen John. Er ist schuld – er bringt dich dazu, solche Blödheiten zu machen. Du bist einfach dämlich, wenn es um ihn geht.
Ob ihre Kusine doch recht gehabt hatte? Brauchte sie tatsächlich Matt und Julian?
Im Moment sah es fast danach aus. Fröstelnd zog sie den dicken Anorak, den Matt vermutlich aus purer Gewohnheit im Auto gelassen hatte, enger um ihren Oberkörper. Obwohl Julian die Heizung auf Hochtouren laufen hatte, wurde ihr nicht richtig warm. Immer wieder durchzogen kleine Schauer ihren Körper. Sie spürte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen.
Als die Lichter der Stadt sie endlich milchig empfingen, reichte die Sicht nur mehr bis zur Windschutzscheibe. Alles ringsherum verschwamm in einem grauweißen Dunst aus unzähligen, kleinen Schneeflocken.
Julian lenkte den Jeep auf den handtuchgroßen Parkplatz des Oldtime Motels und stellte den Motor ab.
»Hey, ich geh mal rein und versuche, ein Zimmer zu bekommen. Schaffst du es hier alleine?« Seine grünen Augen musterte sie besorgt. Sie versuchte ein Nicken.
»J – ja, iich, ich komm klar.«
»Okay, ich bin sofort wieder da.«
Er stieg rasch aus und lief auf die trüb beleuchtete Eingangstür des Motels zu. Irenes Zustand war besorgniserregend. Sie hatte sich den Kopf gestoßen, stand noch immer unter Schock. Und was zur Hölle war nur im Wald los gewesen? Sein Tattoo hatte geprickelt, das war schon sehr lange nicht mehr passiert und es bedeutete nichts Gutes. Hastig drückte er die Tür zur Rezeption auf und betrat den warmen Raum.
Während Julian sich um ein Zimmer kümmerte, zog Irene den Anorak enger um ihren Körper. Wieso konnte ihr einfach nicht warm werden? Was war los?
Ihre verworrenen Gedankenströme gaben ihr keine Antwort darauf.
Nach einiger Zeit wurde sie unruhig. Bilder von verzerrten Fratzen, Schneestürme und Geister, die sie bedrohten, vermischten sich mit dem soeben Erlebten. Wo blieb Julian nur? Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, öffnete jemand die Beifahrertür.
»Komm, wir hatten Glück, oder anders gesagt, es gibt ein Zimmer für uns.«
Verwirrt starrte sie Julian an.
»Okay, wir, wir haben also – ein Zimmer.« Noch konnte sie mit dem Gesagten nichts anfangen.
Julian atmete tief durch.
»Ja, es gibt ein Zimmer für uns beide, alle anderen sind ausgebucht. Irgendeine Firma hat sich hier überall einquartiert.«
»Du meinst, wir – wir müssen?« Der Gedanke allein mit Julian in einem Motelzimmer zu sein, löste Unbehagen in ihr aus. Es war schwer genug, mit zwei so heißen Typen wie Matt und Julian zusammenzuleben. Doch allein mit einem von ihnen in einem Zimmer zusammengepfercht zu sein, erschien ihr schlichtweg unmöglich.
Trotz aller Bemühungen, fielen ihr die Erlebnisse in Chicago erneut ein. Damals hatte er sie zum Beispiel gemeinsam mit seinem väterlichen Freund Will aus einer Bar gefischt. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie ihn dreist angeflirtet hatte. Das die K.O-Tropfen daran schuld gewesen waren, erschien ihr nebensächlich. Sie wusste, wie gut er aussah, und er wusste es zweifelsohne auch. Ihr war klar, dass er sich öfter in Stormy Mills herumgetrieben hatte, und es gab Anzeichen dafür, dass er nicht immer allein unterwegs gewesen war, doch sie hatte nicht nachgefragt, das brachte sie noch nicht fertig. Es ging sie in Wahrheit nichts an, und das wusste sie.
Er riss sie aus ihren ungewollten Gedankengängen.
»Jep, ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. Mal abgesehen von den Wetterverhältnissen, ist dein Zustand nicht gerade gut.«
In ihrem Kopf rumorte es und sie hatte alle Mühe sich zu konzentrieren, dennoch fiel ihr ein, weswegen das Motel so voll war.
»Oh, stimmt ja, die Städter. Deswegen war das Kino heute so voll. Shelby hat mir erzählt, dass die Firmenleute eigentlich in Shannon hätten unterkommen sollen. Doch dort gab es ein Problem mit dem Hotel.« Mit zittrigen Händen strich sie sich die Haare aus dem Gesicht.
»Was? Ach, das meinst du. Na dann ist alles klar.« Julian hielt die Tür weit auf.
»Komm schon. Du musst ins Warme.«
»Ja, ich, ich komm schon«, sie hievte sich träge aus dem Wagen. Ihr Körper fühlte sich bleischwer an. Ein leichtes Schwindelgefühl machte sich breit und sie stützte sich schwer auf die Tür. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Hastig tat sie ein paar Atemzüge, um sie wegzuatmen. Fahrig fuhr sie sich über das Gesicht. Etwas stimmte nicht mit ihr.
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