Der Wagen schlenkerte ein bisschen, doch es gelang ihr, ihn auf der Straße zu halten.
Ruhig, Irene, sprach sie sich in Gedanken Mut zu – du kennst dich hier aus, nchts wird passieren.
Erleichtert nahm sie erneut die Rücklichter des Jeeps vor ihr wahr, und atmete auf. Gott sei Dank.
Aus Angst alleine in der Wildnis zurückzubleiben, klebte sie eine Zeitlang förmlich an seiner Stoßstange. Inzwischen war sie heilfroh darüber, nicht alleine unterwegs zu sein. Sie wusste nicht, weshalb sie so empfand, denn sie war schon so oft auf dieser Strecke gewesen. Ob es daran lag, dass zwei Menschen spurlos verschwunden waren? Immerhin war so etwas schon länger nicht passiert.
Als die Parkranger vor ein paar Tagen zur Ranch hochgekommen waren, um eine Warnung gegen eventuelle Tierangriffe auszusprechen, hatte sie es kaum glauben können. Selbst die Ranger schienen ob der ungewohnten Situation unsicher, doch scheinbar hatten sie Spuren gefunden, die auf Wildtiere hindeuteten. Während sie darüber nachgrübelte, wann zum letzten Mal die Rede von einem Wildtierangriff gewesen war, folgte sie dem Jeep in das erste Waldstück auf der Strecke. Von einem Moment auf den anderen wurde sie förmlich von der Dunkelheit verschluckt.
Die Umrisse der Bäume links und rechts neben der Straße, hoben sich nurmehr schemenhaft gegen das weiße Gestöber ab. Mit einem Mal wirkte die Fahrbahn zu schmal. Zu schmal und gewunden.
Als der Jeep sich erneut von Irene entfernte, wuchs ihre Panik an.
Nein, bloß nicht Julian aus den Augen verlieren! Ängstlich stieg sie aufs Gas.
Zuviel; dachte sie noch. Da war es bereits zu spät.
Sie fühlte, wie die Reifen durchdrehten und beging einen weiteren Fehler. Instinktiv trat sie auf die Bremse. Zu spät – schrie sie innerlich. Zu spät.
Der Wagen schlitterte wild über die schmale Straße. Hektisch versuchte die Frau gegenzusteuern, doch die Reifen griffen nicht mehr auf der rutschigen Fahrbahn und der Toyota drehte sich unkontrolliert um seine Achse.
Irene verlor vollends die Kontrolle über den Wagen und schleuderte seitlich von der Straße in den Graben am Rand des Waldes. Erschrocken schrie sie auf und kniff die Augen zu.
Lass da kein Baum sein, bitte, bitte lass da kein Baum sein, betete sie im Stillen.
Knirschend ratterte das Auto durch Schnee und Laub, ehe es mit einem kräftigen Ruck stehenblieb.
Irene stieß mit dem Kopf unsanft gegen das Lenkrad und dann war es endlich vorbei.
Das Nächste, was sie wahrnahm, waren ihre zittrigen Hände, die noch auf dem Lenkrad ruhten. Ihr Kopf dröhnte und das Blut rauschte in den Ohren. Vorsichtig atmete sie ein und aus, um die kleinen schwarzen Punkte vor ihren Augen zu vertreiben.
Bis auf die Scheinwerfer, deren trübes Licht einige Bäume unweit vor ihr erhellten, war es um sie herum stockfinster.
Irene konnte das Rütteln des Windes spüren, während sie wie betäubt auf die dichten Schneeflocken starrte, die um den RAV herumwirbelten.
Ich lebe noch, dache sie. Benommen versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Wieso war sie bloß in die Stadt gefahren? Es hätte ihr bewusst sein sollen, dass Askuwheteau Recht behalten würde. Das tat er eigentlich immer.
Erst als jemand am Türgriff rüttelte, hob sie den Kopf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie realisierte, dass es Julian war. Gleich darauf hörte sie das kalte Knirschen des Schnees, als er endlich die Tür aufstemmte.
So viel Schnee in so kurzer Zeit.
»Irene, bist du verletzt?« Die Eindringlichkeit seiner Worte riss sie aus ihrer Benommenheit.
»Ich – glaube nicht.«
Mit zittrigen Fingern fummelte sie an ihrem Gurt herum, doch sie bekam den Schalter, der ihn lösen sollte, nicht richtig zu fassen.
»Verflixter Gurt. Er – ich kann ihn nicht ...«
Julian beugte sich über sie und löste die Sperre mit einem Handgriff. Behutsam zog er sie hoch und half ihr aus den Wagen. Erst als sie im Schnee stand, konnte sie seine Hände spüren, die ihre Schultern fest umklammerten.
»Hey, sieh mich an.« Seine Stimme klang eindringlich und er hob ihr Kinn an.
»Irene, sieh mich an, ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich denke schon«, krächzte sie endlich. Ihre Knie drohten unter ihr nachzugeben und sie verspürte eine leichte Übelkeit, doch irgendwie wusste sie, dass sie nicht verletzt war. Zumindest nicht schwer.
»Ich hab nichts«, versicherte sie Julian schwach.
Er berührte behutsam ihre Stirn, auf der sich bereits der Ansatz einer Beule abzeichnete.
»Du hast dir den Kopf gestoßen.«
Irene zuckte leicht zusammen.
»Oh, hab ich – gar nicht bemerkt.« Verwirrt starrte sie in seine grünen Augen, in denen sich seine Sorge widerspiegelte.
»Ja, das seh ich.«
Er wandte sich ab und zog den Schlüssel aus dem Schloss ihres RAV, ehe er nach ihrer Tasche griff und sie ihr hinhielt. Automatisch nahm sie die Tasche entgegen und hängte sie sich um.
»Komm, dein Auto bleibt erstmal hier.« Er schloss die Fahrertür und sperrte zu. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, griff auf Irene über und sie nickte nur. Das klang irgendwie vernünftig.
Dann hörten beide gleichzeitig dieses Geräusch. Es fiel ihnen deswegen auf, weil es nicht hierher passte. Zuerst klang es wie das Jaulen eines verletzten Tieres, ehe es in ein hohles Knurren überging. In diesem Ton verbarg sich rohe Wildheit.
»Was – ist das?« Ihre Stimme zitterte und übertrug sich auf ihren Körper. Immer noch vom Unfall benommen, stierte sie entsetzt in die Dunkelheit der Baumgruppe hinter ihr. Eine frostig kalte Klammer legte sich um ihr Herz. Bewegte sich da etwas zwischen den Bäumen?
Ja, jemand – etwas starrte sie an. Irene konnte förmlich die Gegenwart eines fremden Wesens spüren. Im Dunkeln lauernd – gefährlich – Ein Jäger.
Die Luft um sie herum wirkte mit einem Mal eingefroren. Eine unheilvolle Atmosphäre ruhte über der gesamten Gegend.
Bis auf das hohle Jaulen und dem eisigen Wind schienen sämtliche natürlichen Geräusche um sie herum verstummt.
»Was zum Teufel«, Julian fuhr herum und durchbohrte mit seinem Blick die nähere Umgebung. Auch er konnte die Stimmung wahrnehmen, die sich über den einsamen Ort inmitten dem Mistydew Forest gelegt hatte und sie gefiel ihm nicht. Durch den dichten Schnee konnte er schemenhaft die hohen Bäume erkennen, die in einiger Entfernung eine undurchdringliche Wand bildeten. Bewegte sich dort zwischen den Bäumen etwas?
An der Stelle auf seinen Oberarm, wo sich das Tattoo befand, konnte er ein leichtes Brennen wahrnehmen. Das drohende Unheil war greifbar. Da draußen lauerte etwas. Etwas, dessen kalte Bösartigkeit sämtliche Lebewesen, auch die größten, vor Furcht erstarren ließ.
Ein kalter Lufthauch strich über Irene hinweg. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Gefahr, dachte sie. Der Ort schien von etwas Unnatürlichem beherrscht. Instinktiv klammerte sie sich an Julians Arm.
Er fluchte leise. Das war nicht gut. Ganz und gar nicht. Hier lief etwas völlig falsch. Die gesamte Atmosphäre war erfüllt von erdrückender, bösartiger Kraft. Unbewusst tastete er nach seinem Colt, den er seit geraumer Zeit wieder mit sich herumtrug. Das Gefühl des schweren Metalls an seiner Hüfte trug dazu bei, seine Gedanken zu klären. In dem Moment wich das durchdringende Jaulen einem sanften Gesang. Worte einer unbekannten Sprache drangen von allen Seiten auf die beiden Menschen ein und durchfloss zart ihre Seelen.
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