»Ja, ich bin tot, ich existiere nur in deinen Gedanken – blablabla.« Sie verdrehte genervt die Augen, ehe sie ihn misstrauisch taxierte.
»Du wirst doch heute nicht wieder auf mich schießen, oder?«
Julian schüttelte den Kopf. Seine Kiefer mahlten. Das hier war zwar ein Traum, dennoch konnte er es kaum ertragen, sie anzusehen. Sie wirkte so real – voller Leben, doch er wusste, das war nur die Illusion eines zusammengesponnenen Traumgebildes. Seit er auf der Eagleside-Ranch wohnte, träumte er wieder von ihr.
»Jeannie, wieso bist du hier?« Selbst im Traum klang seine Stimme brüchig.
Seine Schwester lachte fröhlich auf.
»Typisch, diese Frage. Na, was denkst du denn? Irene ist schon wieder in Gefahr. Hast du es schon vergessen?« Sie seufzte erneut.
»Na gut, es ist schon lange her, aber ehrlich, hast du denn gar nichts gespürt?« Sie wies auf seinen linken Arm.
»Was ist mit dem Tattoo? Hat es sich nicht bemerkbar gemacht?«
Julian antwortete nicht darauf. Das hier war ein Traum. Er würde sich nicht auf eine Diskussion mit dem Traumgeist seiner toten Schwester einlassen.
Jeannie verdrehte die Augen.
»Dann eben nicht, war ja nicht anders zu erwarten.«
Sie wirkte fröhlich, ausgelassen, als ob alles nur ein Spiel war.
Als sie ihre Haare schwungvoll zurückwarf, schien es Julian, als ob lauter kleine rotgoldene Funken auseinanderstoben. Einen Sekundenbruchteil wirkte ihre Haut, wie von Innen beleuchtet.
Gedankenverloren starrte sie zum milchig-trüben Fenster hinaus.
»Ich – kann nicht erkennen, was im Wald herumläuft. Aber ich fühle, dass ich es schon gesehen hab. Damals«, stirnrunzelnd sprach sie weiter.
»Ich weiß es, sie ist in – in Gefahr. ES hat sie gesehen.«
Sie senkte ihre Stimme.
»ES wird sie jagen. Sie strahlt einfach zu hell.«
Stirnrunzelnd blieb sie nahe der Tür stehen.
»Es wird auch dich jagen.«
Ein verwirrter Ausdruck lag in ihren Augen.
»Es tut mir leid, Jul, aber ES hat – hat dich schon mal gesehen. Entschuldige, ich – ich muss – gehen.« Mit einem Mal wirkte sie abwesend.
»Dein Tattoo, es hat es dir sogar erzählt – doch du hast nicht richtig zugehört.« Sie fixierte einen imaginären Punkt hinter der Fensterscheibe, ehe sie einfach die Hand hob, und ihm zuwinkte.
Ihre Konturen verschwammen, wurden immer durchsichtiger, klarer.
Ein letzter kühler Hauch, eine dünne Stimme, die er kaum noch wahrnehmen konnte.
»Der, der über euch wacht, der weiß es«, wisperte das Stimmchen, ehe es sich im kühlen Dunst der sich auflösenden Konturen verlor.
Julian schlug die Augen auf. Er brauchte nur ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass er wach war. Ein leichter Hauch von Jasmin streifte seine Sinne, ehe er die Wärme des Körpers neben sich wahrnahm.
Dicht an ihn gedrängt, lag Irene, die Beine angezogen, den Kopf an seiner Schulter und schlief.
Vorsichtig zog er seinen Arm unter ihrem Körper hervor. Als sie sich leise regte, dachte er schon, er hätte sie aufgeweckt. Doch sie drehte sich nur auf die Seite und schlief weiter. Erleichtert, sie nicht aus dem Schlaf gerissen zu haben, stand er auf und schaltete den Fernseher ab. Danach schnappte er sich seine Jacke und verließ das Zimmer. Er brauchte unbedingt frische Luft.
Der Traum, indem seine Schwester ihm erschienen war, hatte ihm mehr zugesetzt, als er sich eingestehen wollte. Er verstand den Sinn dahinter nicht, dennoch hatte er das undeutliche Gefühl, dass er näher darauf eingehen sollte. ES, oder was auch immer da draußen war, hatte ihn gesehen? Wenn es so war, dann müsste er dieses Monster auch gesichtet haben. Die Erlebnisse vom Vorabend standen ihm noch klar vor Augen, doch er hatte dieses Wesen mehr geahnt, als gesehen. Ein huschender Schatten, grausame Energie und dann ...
»Mein Tattoo, klar doch. Und ein verschwommenes Ding im Wald, das uns jagt. Wie toll«, murmelte er. Wieso nur hatte er das untrügliche Gefühl, etwas Wichtiges zu übersehen?
Kaum im Freien angekommen, erkannte er, dass sich der Schnee zentimeterhoch auf den Fensterbrettern türmte. Wenigstens schien der Wind nachgelassen zu haben, dennoch fröstelte Julian. Es war nach wie vor bitterkalt.
Er ging an mehreren Türen vorbei, ehe er das kleine Gebäude der Rezeption betrat. Die junge Dame hinter dem Tresen nickte ihm freundlich zu.
Julians entwaffnendes ‚Guten Morgen‘ zauberte sofort ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht.
»Guten Morgen. Ich hoffe, Sie hatten eine erholsame Nacht. Der Sturm hat Gott sei Dank schon ein bisschen nachgelassen.«
»Klingt gut.«
Julian sah eine Thermoskanne neben einigen Styroporbechern stehen und beschloss, Irene einen Kaffee mitzunehmen. Das würde ihr bestimmt gut tun. Doch als er die Kanne anhob, fühlte diese sich leer an. Resigniert schloss er die Augen. Der Tag begann absolut perfekt.
»Oh, tut mir leid.« Die Dame wirkte ehrlich zerknirscht. »Leider kann ich Ihnen keinen Kaffee anbieten.« Sie lächelte entschuldigend.
»Unsere Küche hat derzeit keinen Strom. Aber im Darkstone Inn gibt es dafür Brunch.« Sie kramte in der Lade unter ihrem Tresen, ehe sie zwei knallig rote Zettel hervorzog und sie ihm hinhielt.
»Hier für Sie und ihre Freundin.«
Es handelte sich um zwei Gutscheine für einen Brunch.
»Damit können sie um drei Dollar alles dort essen. Kaffee und Muffins gibt es natürlich umsonst, falls Ihnen das lieber ist.«
»Danke, wissen Sie zufällig, ob die 93er wieder frei ist?«
»Einen Moment!« Rasch tippte sie etwas in ihren Computer. »Hm, welche Richtung brauchen Sie denn?«
»Ähm, Mistydew Mountains?« Er wartete geduldig, während sie weiterhin ihren PC bearbeitete.
»Nein, tut mir leid! Sie räumen gerade die Straße nach Pinedale. Und von Cedars kann man bereits wieder nach Shannon, aber es wird wohl noch eine Weile dauern.«
Klar, was sonst? Julian bedankte sich nochmal, ehe er auf die Straße trat. Diesmal nahm er sich Zeit, um tief die kalte Luft einzuatmen.
Stormy Mills sah aus wie der leibhaftige Traum aller Wintersportler.
»Wirklich – das ist ziemlich kitschig«, murmelte er genervt, ehe er sich endlich zusammennahm, und zurück ins Zimmer ging. Irene indessen kam gerade aus dem Bad. Noch immer wirkte sie ein wenig erschöpft. Ihre kornblumenblauen Augen bildeten einen starken Kontrast in dem blassen Gesicht.
»Wie sieht es aus?«
Julian wusste, dass sie wissen wollte, ob sie bald die Heimreise antreten konnten.
»Tja, wir sitzen im Moment hier fest und es gibt keinen Kaffee im Motel, aber ich hab zwei Gutscheine für ein billiges Frühstück im Darkstone Inn.«
Als Julians Mobiltelefon sich lautstark mit den ersten Tönen von ‚Bad Moon Rising‘ meldete, zuckte Irene erschrocken zusammen. Sie war ganz klar noch nicht wiederhergestellt.
Julian sah aufs Display und erkannte Matts Nummer, also nahm er den Anruf an.
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