Doch mit dieser Entspannung kamen auch die Träume – und die Schrecken der letzten Stunden holten sie mit lauernder Intensität ein und drangen erbarmungslos an die Oberfläche.
Der Wald war düster – zwischen den Bäumen hingen dicke fetzenartige Dunstschwaden, die einen trägen Totentanz aufführten, ohne aus dem Schatten des Waldes zu gelangen. Und da war noch etwas. Sie konnte fast körperlich die Anwesenheit von etwas Fremdem spüren. Sie kannte dieses Gefühl, hatte es schon einmal gehabt. Verschwommene Bilder tauchten vor ihren Augen auf – der leere Highway, die Schneeflocken – ja, sie war schon hier gewesen.
Entsetzt starrte Irene in die graue Dunkelheit. Ein Sumpf aus finsterer Leere, der mit klebrigen Fingern nach ihrem Bewusstsein griff.
Sie konnte die Intensität des Schreckens erfühlen. Dunkle Beklommenheit legte sich wie ein schwerer Mantel um sie und machte sie fast bewegungslos. Nein, sie musste weg! So schnell wie möglich musste sie von hier verschwinden. Sie wusste irgendwie, dass sie sonst tot sein würde. Aber wo war Julian?
Sie erzitterte vor Angst. War er nicht gerade hier bei ihr gewesen?
Dann hörte sie jemanden rufen. Zuerst klang es nur hohl und in weiter Ferne, doch umso mehr sie in das Dunkel lauschte, desto näher schien die Stimme zu kommen.
Julian! Ja, das musste er sein!
Schon wollte sie ihm entgegen laufen, als ihr bewusst wurde, dass sie damit geradewegs in die Dunkelheit der Wälder hineinlaufen würde. Nein! Das konnte nicht stimmen! Julian würde sie nicht in die Irre führen – dann, mit einem Mal wurde es ihr bewusst: Es war nicht Julian! Julian er war – »Tot – er ist tot«, drang die Stimme erneut an ihr Ohr, nur klang sie diesmal anders – hohler – raunend.
»Nein!« Irgendwie wusste sie, dass es so nicht stimmen konnte. Diese Kreatur erzählte nur das, wovon sie annahm, dass es Irene aus der Fassung bringen konnte.
Kopflos stürmte sie los. Bloß weg von den Bäumen, hinaus auf das weiße Feld aus Schnee und Eis. Etwas Schweres, fast Lautloses folgte ihr – sie erfühlte dessen Gegenwart deutlich, doch sie rannte trotzdem, weiter und immer weiter ...
»Es ist hinter mir her! Es ist in der Nähe!«, dachte sie.
Doch sie rannte weiter, stolperte über Wurzeln und abgebrochene Äste. Nur weg ...
Dann erkannte sie die Wahrheit. Sie würde nicht entkommen – niemals – dieses Wesen kannte die Gegend. Jede Abkürzung, jeden Zentimeter des Bodens.
Ein erneutes Rufen riss sie aus ihrer Panik. Schon wieder rief jemand ihren Namen – diesmal aus einer anderen Richtung.
Gehetzt sah sie sich um. Das klang wieder nach Julian! Vielleicht steckte er in Schwierigkeiten.
Sie fuhr herum und starrte in die Richtung, aus dem sie die Stimme vernommen hatte. Ja, das klang eindeutig nach Julian! Sie war sich sicher. Er musste in der Nähe sein!
»Hilf mir. Schnell!«
Ja, das war er sicher! Es klang wirklich, als ob er in Schwierigkeiten steckte!
Nicht mehr nach links oder rechts blickend, raste sie über die dicke Schneedecke in Richtung der Bäume davon. Nichts war von ihrer Angst übriggeblieben! Sie folgte nur ihrem Wunsch, Julian zu finden.
»Hey, Irene. Wach auf!«
Diese Stimme klang auch nach Julian, nur dass sie von irgendwo oberhalb den dichten Wolken zu ihr durchdrang. Nein, das konnte doch nicht sein. Er war doch dort zwischen den Bäumen. Oder etwa nicht?
»Irene, ich bin hier.«
Verwirrt hielt sie inne.
Die Stimme kam von irgendwoher, aber nicht von diesem Ort an dem sie sich gerade befand. Seltsamerweise klang sie für sie vertrauter, als die Stimme aus dem Wald.
»Wo bist du, Julian?« Unnötig zu fragen, dennoch ...
»Ich bin hier, Irene. Genau hier.« Ja, das war er wieder, oder nicht?
Leise Zweifel regten sich in ihr. Könnte es sein, dass die Stimme aus dem Wald, die wie Julian klang, gar nicht Julian war? Könnte es sein, dass diese Kreatur, dieses Schreckliche, dass hier auf sie lauerte, sie verwirren wollte? Irene hatte auf einmal das Gefühl, dass sich die finstere Leere und der seltsam schwere Nebel lichteten. Erst ein bisschen, dann ...
Für Sekunden erkannte sie sein wahres Ich. Vom nackten Grauen überwältigt, starrte sie auf die knochige Gestalt, von deren skelettähnlichen Armen fetzenartige Hautreste hinabhingen. Sein Kopf war kahl, mit einer dünnen pergamentähnlichen Haut, wie die einer Mumie, überzogen. Doch die Augen waren es, die sich wohl für immer in ihre Seele brennen würden. In den Höhlen war nichts als dunkle Leere und dort, wo sich die Iris befinden sollte, flackerte ein unstetes gelbes Licht. Seelenlos spiegelte sich der Schein in totem Schwarz wider.
Julian beobachtete ihren unruhigen Schlaf. Sie schien etwas Schlimmes zu träumen. Er überlegte, ob er sie wecken sollte, doch beschloss, sie in Ruhe zu lassen.
Irene wälzte sich von einer Seite auf die andere, während sie unverständlich vor sich hinmurmelte.
Ein paar Mal vermeinte Julian, seinen Namen zu hören.
Stirnrunzelnd zog er ihr die verrutschte Decke über die Schultern.
Eine Weile hatte er geschlafen, doch irgendwann war er aufgewacht, und konnte nicht mehr weiterschlafen. Also war er einfach so liegengeblieben und hatte an die Decke gestarrt, bis Irene begonnen hatte, zu träumen.
Stirnrunzelnd musterte er ihr fahles Gesicht. Eine Strähne ihres Haares klebte an ihrer Stirn und ihre Lider zuckten.
Vorsichtig strich er ihr die Strähne zurück. Warum er es tat, konnte er nicht sagen, doch etwas an ihr strahlte Hilflosigkeit aus, obwohl sie nur schlief.
Besorgt stellte er fest, dass ihre Stirn sich heiß anfühlte. Könnte eine Nebenwirkung des Schockes sein.
Im selben Moment schlug sie die Augen auf. Ihr Blick war vom Schlaf noch verschleiert, dennoch erkannte er für die Winzigkeit einer Sekunde die Angst darin. Keuchend fuhr Irene hoch. Ehe sie seitwärts aus dem Bett kippen konnte, gelang es Julian, sie festzuhalten.
»Langsam, Irene, langsam.« Er zog sie vorsichtig in die Mitte des Bettes, ohne sie jedoch loszulassen. »Schon gut. Alles okay.« Julian drückte ihre Hand, während er darauf wartete, dass sie entdeckte, wo sie sich befand. Er fühlte sich irgendwie ertappt, obwohl es keinen Grund dafür gab.
Die wenigen Sekunden, die Irene brauchte, um aus der lichtlosen, zwielichtigen Welt zu erwachen, reichten aus um den Schleier, den der Traum gelüftet hatte, gänzlich von ihren Gedanken zu nehmen.
»Ich – ich hab es gesehen«, keuchte Irene.
Leichenblass starrte sie ihn an. Die Erinnerung an die mumienhafte Fratze hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt.
»Hey, du hattest einen Albtraum. Es ist alles okay.«
Irene schluckte.
»Nein, es – es war anders.« Sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte. Mit Albträumen kannte sie sich aus, doch dieser hier war anders gewesen.
»Ich lief dort draußen herum und suchte – ich hab dich gesucht.« Sie schloss einen Moment die Augen und atmete durch.
»Dann hast du mich gerufen. Jedenfalls dachte ich das, doch deine Stimme kam plötzlich aus dem Wald. Ich bin – ihr gefolgt, aber ... «
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