Der Traum, er hatte sich real angefühlt.
»Es – es hat versucht, mich wegzulocken.«
Die leeren, dunklen Augen mit dem gelben Flackern darin hatten sie direkt angestarrt, so als ob es genau wusste, dass sie ihm nicht entkommen würde.
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr bei dem Gedanken daran, ein eisiger Schauer über den Rücken rann.
»Es hat mich – direkt angesehen. Dieses Ding, es – es schien zu wissen, wer ich bin«, flüsterte sie erzitternd. Ja, genau das war es, was diesen Traum von anderen unterschied. Das Wesen hatte sie mit den dunklen, seelenlosen Augen angestarrt. Es hatte sie wissen lassen, dass es sie wiedererkennen würde.
»Da draußen ist etwas, Jul. Etwas Schreckliches, etwas, das – Jagd auf Menschen macht.« Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie ihn an.
Julian erkannte diesen Ausdruck. Er hatte ihn bereits unzählige Male bei anderen Menschen gesehen. Es war die Furcht vor dem Unheimlichen, dem Unerklärbaren – gepaart mit der Gewissheit dass es furchtbare Dinge gab, die da draußen existierten, obwohl es sie nicht geben sollte.
Irene ahnte nicht nur, dass da draußen etwas Gefährliches lauerte, sie wusste es bereits.
»Schon gut, Irene, nichts ist passiert.« Er strich ihr beruhigend über die Haare. Sie sollte so etwas nicht erleben müssen, kein normaler Mensch sollte so etwas erleben müssen.
Er würde ihr gerne sagen, dass alles in Ordnung war, dass sie tatsächlich nur einen Albtraum gehabt hatte, doch er konnte es nicht. Stattdessen zog er sie zu sich heran.
»Hey«, sagte er sanft. »Dir wird nichts passieren.«
Das hoffter er zumindest. Am liebsten wäre es ihm, dass es dieses Wesen da draußen nicht gab, dass Irene nur unter den Nachwirkungen des Unfalls litt, doch er wusste es besser.
Sie schluckte.
»Ich – ich hab keine Angst um – um mich.« Das Zittern in ihrer Stimme verriet Julian etwas anderes, doch er erwähnte es nicht.
Als sie sich an seine Schulter lehnte, konnte sie den leichten Geruch seines Aftershaves wahrnehmen. Der sanfte Duft von milden Zitronen mit einem Hauch Sandelholz umschmeichelte ihre Nase. Aus irgendeinem Grund wirkte das auf sie beruhigend.
Julian zog scharf die Luft ein, als ihm Irenes weiches Haar an der Wange kitzelte. Sie duftete noch immer nach diesem verdammten Jasmin. Trotzdem ließ er sie nicht los.
»Es ist okay, angst zu haben.« Seine Stimme klang belegt, was nur zu einem kleinen Teil an ihrer greifbaren Furcht lag.
»Ich kann dir das nicht wegnehmen. Du hast schon erlebt, dass es Dinge gibt, schlimme Dinge, die man nicht auf konventionelle Art erklären kann. Die – die meisten Menschen glauben nicht daran, weil sie es so gelernt haben. Aber ich – ich hab schon eine Menge – gesehen.« Seine Stimme brach und er schloss für einen Moment die Augen. Ungewollte Bilder tauchten auf. All das Grausame, unheimliche, dass er erlebt hatte, durchzog seine Erinnerungen – und jetzt passierte es erneut.
Er brauchte eine Pause, doch er wusste, dass er nicht wirklich Zeit hatte, sich auszuruhen.
Irene hob träge ihren Kopf, und sah ihn an.
Unter seinen Augen lagen grauschwarze Schatten von zu wenig Schlaf und er wirkte erschöpft.
»Du, du bist müde.« Vorsichtig strich sie mit ihrer Hand über die dunklen Stoppeln an seinen Wangen, die zeigten, dass er sich länger schon nicht rasiert hatte.
Die Berührung war im Moment nicht gerade hilfreich, besonders nicht, in diesem kleinen Motelzimmer mitten in einem Bergkaff.
Verflucht noch mal!
Er hatte im Traum nicht damit gerechnet, dass sie so eine Wirkung auf ihn haben konnte. Und sie war wirklich ausgesprochen weiblich.
Nein! So etwas durfte er nicht denken. Das konnte er nicht zulassen. Nicht bei Irene. Sie war ja eigentlich auch gar nicht sein Typ. Zu draufgängerisch, zu stur. Außerdem lag ihm nichts an Beziehungen, und für ein Abenteuer war sie ihm zu schade.
Er dachte an ihren Ex, diesen John. Der schien ein ganz mieser Typ zu sein, zumindest wenn es um Beziehungen ging.
Genau wie Julian selbst. Scheinbar hatte der Surferboy, wie Matt ihn bezeichnete, auch mehrere Eisen im Feuer gehabt, und dann war da noch diese extreme Eifersucht, die ihn nicht ganz ungefährlich machte.
Wieder musste er an seinen älteren Freund Will denken, der in Sheridan in seiner Detektei saß. Er kannte Julian und hatte ihn bei ihrem letzten Gespräch auch gewarnt, etwas mit Irene anzufangen. Ob er da schon geahnt hatte, wie schwierig das werden würde?
Ja, vermutlich – trotzdem viel leichter gesagt als getan.
Julian schloss einen Moment die Augen und atmete den warmen Duft ihrer Haut ein. Mehr ging nicht, mehr würde er nicht zulassen.
Aus Erfahrung wusste er, wohin zu viele Gefühle führen konnten. Sie führten unweigerlich zu Trauer und Schmerz. Er hatte es bei seinem Vater gesehen, und bei sich selbst. Man konnte komplett darin versinken und alles um sich herum verdrängen. Dennoch, die Mauern, die Julian sich im Laufe der Jahre um den stillen Rückzugsort seiner Seele aufgebaut hatte, drohten im Moment einzustürzen.
Behutsam, ganz darauf bedacht, Irene nicht zu verschrecken, umschloss er ihr Handgelenk, ehe er sanft über ihren Handrücken strich.
»Wir müssen uns jetzt beide ausruhen«, flüsterte er.
Vorsichtig schob er ihre Hand weg und zog die Decke über ihren Oberkörper.
»Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das schon.«
Sie murmelte etwas, dass sich wie ‚schlafen‘ anhörte.
Er ließ zu, dass sie ihren Kopf erneut an seine Schulter senkte.
»Ja, schlaf du nur.« Auch wenn es ihm schwerfiel, so nahe bei ihr zu sein, würde er sich nicht von der Stelle rühren. Nicht, solange die Möglichkeit bestand, dass ausgerechnet er sie dazu brachte, zu schlafen, und vielleicht für eine Weile zu vergessen, was sie heute erlebt hatte.
Stormy Mills
»Hübsch ist sie, auch wenn sie völlig durchgeknallt ist.«
Verwirrt blinzelte Julian in die diffuse Dunkelheit des Motelzimmers.
Als er das etwa vierzehnjährige Mädchen mit den rotgoldenen Shirley Temple-Locken erkannte, fuhr er hoch.
Jeannie, schon wieder.
»Hallo, Bruderherz. Ja, ich schon wieder.« Sie seufzte theatralisch, ehe sie sich neben ihn hinsetzte.
»Sie ist wirklich nett anzusehen.« Mit einer kleinen Handbewegung wies sie auf Irene, die scheinbar tief und fest schlief.
»Du stehst auf sie. Na gut, wieso auch nicht.«
Julian entgegnete nichts darauf. Er wusste, das hier war nicht real. Es war einer dieser seltsamen Träume, die von seinem Unterbewusstsein gezeugt wurden. Seine Schwester lebte schon lange nicht mehr.
Im Frühjahr, nachdem Will und er einen Geist vertrieben hatten, war sie zum ersten Mal in seinen Träumen aufgetaucht. Er erinnerte sich deutlich daran, wie er auf sie geschossen hatte.
Das klang vielleicht etwas hart, doch Julian war nach ihrem Tod und den Tod ihrer Eltern durch die Hölle gegangen. Er hatte eine Menge erlebt. Einiges davon begriff er immer noch nicht, doch etwas Wesentliches hatte er kapiert: Was tot ist, sollte auch tot bleiben – und Jeannie war schon viele Jahre tot.
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