Anea steht unter dem Blätterdach eines mächtigen Baumes, dessen Äste fast bis zum Boden reichen, und überblickt das Treiben in der Senke. Sie beobachtet die Gruppe der kleineren Wesen, die rufend, manchmal schreiend, vor einem einzelnen Wesen weglaufen, zwischen den Hütten auseinanderstieben und verschwinden. Das einzelne kleine Geschöpf geht nach einigen Augenblicken den anderen hinterher. Aber das Geschöpf kommt nur langsam voran, es kann nicht schneller. Eines seiner Beine funktioniert nicht, es zieht es ruckartig hinterher. Seine Spielgefährten springen lachend aus ihren Verstecken, schneiden Grimassen und fordern das hinkende Kind provozierend zu einer schnelleren Gangart auf.
Kind?
Das sind die Icks und ihre Kinder von denen Larus erzählte. Hier beginnt meine Aufgabe.
Aufgabe? Ja, meine Aufgabe. Sie ist sicher. Wie in der Wüste, als etwas sie vor der drohenden Gefahr warnte.
Anea will gerade aus ihrem Versteck heraustreten, als Unruhe bei den erwachsenen Icks, die auf den Feldern arbeiten, entsteht. Sie rufen einander zu, zeigen in Richtung Berge. Und jetzt bemerkt es auch Anea. Undeutliche Figuren laufen den Hang hinunter, aus der Deckung eines kleinen Wäldchens und stürmen auf die Icks zu. Dunkle Gestalten, die anders gekleidet sind als die bäuerlichen Icks, mit ihren hellen Stoffen. Die Gestalten fuchteln drohend mit langen Stangen in der Luft, laufen schreiend auf die Icks zu, die ihre Werkzeuge fallen lassen und in die Hütten zu flüchten versuchen. Die Kinder sind schon verschwunden. Aber nicht alle. Das hinkende Icks-Kind steht wie versteinert in der Mitte des kleinen Platzes zwischen den Hütten und schaut den heranstürmenden Gestalten mit großen Augen entgegen. Aber es ist nicht das einzige, das noch keinen Schutz findet, zwei Andere verbergen sich hinter Büschen, die in der Nähe der Hütten stehen.
Die Angreifer, die mit dunklen, robusten Jobben bekleidet sind und helmartigen Kopfbedeckungen tragen, unter denen dunkles, verfilztes Haar hervorsteht, erreichen die Hütten.
Die Yps.
Sie sind gekommen, um die Kinder der Icks zu verschleppen.
Das Kind steht immer noch wie versteinert auf dem Platz. Keiner der dunklen Gestalten kümmert sich um das kleine Wesen. Die Yps treten die Pforten der Hütten ein, stürmen hinein, aus dem Inneren ertönt wildes hysterisches Geschrei, ein Mann stürzt aus einer Hütte und läuft auf das Kind zu. Ein Yps-Wesen tritt ihm entgegen, stößt ihm seine Stange vor die Brust, wirft ihn zu Boden und tritt den Icks-Erwachsenen mit seinem schweren Stiefel, stößt ihm mit der Stange in die Rippen. Der Icks bleibt bewegungslos am Boden liegen.
Der Yps-Mann fesselt die Hände des Kindes, bleibt bei ihr stehen, will seine Beute nicht gehen lassen. Die anderen Yps durchsuchen die Hütten. Eine Familie der Icks tritt aus der Hütte, zwei Erwachsene, unterschiedlicher Größe und Körperstatur, die Kleinere der beiden trägt langes Haar, bei ihnen sind mehrere Kinder. Sie alle stehen dicht gedrängt beisammen. Mehrere Yps kommen herbei, schlagen einen der Erwachsenen, einer schreit krächzend einen Befehl, zwei laufen in die Hütte, einen Moment später ertönt ein spitzer Schrei. Ein Yps kommt aus der Hütte und schleift ein schreiendes Kind an dessen Haar hinter sich her. Der große Icks stürzt nach vorne auf das Kind zu, aber er kommt nicht weit. Geschickt nutzt ein Yps die Stange, um den Icks zu Fall zu bringen, und dann schlagen sie zu dritt auf den am Boden liegenden ein, zur Strafe wegen seines Versuches, die Yps zu täuschen und ein Kind vor ihnen zu verbergen.
Anea steht im Schatten des mächtigen Baumes und beobachtet die Ereignisse.
Gibt ihr die Stimme , die von einem undefinierbaren Ort zu kommen scheint, ganz im Gegensatz zu den Stimmen aus ihrer Umgebung, einen Hinwies, einen Rat?
Sie schweigt.
Anea steht still.
Die Yps ziehen ab, drei an Händen gefesselte Kinder in ihrem Trupp. Eine Behausung brennt; die Hütte des Vaters, der mit einem Trick versuchte, eines seiner Kinder zu retten.
Der Trupp zieht langsam Richtung Berge. Sie machen kurz halt, bergen ihre Ausrüstung, die sie vor dem Überfall abgelegt haben. Keiner schaut zurück. Sie sind sicher, niemand der Icks wird ihnen folgen. Die Gemeinschaft der Icks versucht inzwischen den Brand der Hütte zu löschen.
Anea bricht auf. Sie muss nicht besonders vorsichtig sein, ein gewisser Sicherheitsabstand genügt, denn die Yps haben keine Eile, treffen keine Maßnahmen gegen eine Verfolgung, weil sie keine befürchten.
Anea nutzt die natürlichen Gegebenheiten des Geländes, um nicht gesichtet zu werden. Der Trupp marschiert auf die Berge zu, die Hänge werden steiler, Täler werden zu engen Schluchten, Steilwände ragen auf. Mit den Kindern kommt der Trupp nur langsam voran.
Und dann wird es ganz plötzlich dunkel. Die Licht spendende Sonne ist verschwunden, ein anderer Himmelskörper wacht über die Welt, ein seltsames sichelförmiges Etwas, das nur wenig mattgraues Licht verschenkt.
Der Mond?
Ja, der Mond!
Der Yps-Trupp kommt zur Ruhe, rastet zwischen Nadelbäumen auf moosbedecktem Boden.
Sie zünden ein Feuer an. Die Kinder werden an den Füßen zusammengebunden und dürfen sich ausruhen und auf den Waldboden legen. Die Yps-Wesen packen derweil Steinkrüge aus, die in Lederbeuteln geschützt sind, und lassen sie untereinander kreisen. Die Stimmung ist gut, sie sprechen lautstark miteinander, in einer schrill-heiseren Sprache, die Anea nicht versteht. Sie stellen keine Wachen auf, sie erwarten keine Bedrohung.
Anea sucht einen Platz oberhalb des Lagers. Hinter einem Baum geschützt, vertraut sie auf die besondere Fähigkeit ihres Mantels, die sie schon während ihrer Wanderung sehen konnte, aber jetzt in ganz besonderem Maße erfährt. Der Mantel bildet die Farbe und Rindenstruktur des Baumes ab, gegen den sie sich mit dem Rücken lehnt. Er funktioniert so wie Larus es erzählte. Anea will warten bis der Trupp seinen Weg fortsetzt. Sie braucht keinen Schlaf, schließt aber trotzdem die Augen, aber ihre Wahrnehmung ist ununterbrochen.
In der Nacht erschallen seltsame Geräusche, ein piepsend forderndes Rufen, die dunkle kauzige Antwort, das Knacken von Ästen und Blattwerk mit anschließendem Getrampel eines fliehenden Tieres. Der Mond ist verschwunden. Ein matter, silbriger Schein kündigt den neuen Tag an.
Anea hört die schnarrenden Geräusche der Yps-Wesen, die sie im Schlaf ausstoßen. Sie geht vorsichtig an das Lager heran, will nach den Kindern sehen, sieht sie einträchtig auf dem weichen Waldboden beieinander liegen und schlafen. Sie sind an den Füßen gefesselt, und die Enden der Stricke laufen zu ihren Bewachern. Anea wirft einen Blick auf die in dunkle Jacken und robuste Beinkleider gehüllten Yps, die ihre helmartigen Kopfbedeckungen abgelegt haben, die knochigen Gesichter mit dunkelgrauer Erde bemalt, die Keulen und Stangen griffbereit neben sich. Die Stangen laufen an einer Seite spitz zu.
Anea geht langsam zurück, darauf bedacht, auf keinen trockenen Zweig zu treten, der unter ihrem Fuß zerbrechen könnte. Das Licht des neuen Tages nimmt zu, die Wesen werden unruhig, sie wachen auf. Der Erste erhebt sich, reckt seine Glieder, stößt einem seiner Kumpanen mit dem Stiefel in die Seite, artikuliert herrisch ein Kommando, zerrt die Kinder an den Stricken hoch, die schlaftrunken und müde auf die Beine kommen.
Aber den anderen Yps geht es nicht besser, auch sie brauchen eine Zeit, bis sie richtig wach sind. Sie greifen in ihre Beutel, holen etwas hervor, beißen ein Stück davon ab und kauen. Sie geben den Kindern einige Stücke ab.
Dann setzt der Trupp seinen Marsch fort. Anea folgt ihm. Sie marschieren gegen eine Steilwand, ein schmaler, gefährlicher Weg führt nach oben. Die Kinder sind jetzt getrennt. Jedes besitzt einen Aufpasser, der darauf achtet, dass keines den steilen Abhang hinunterfällt. Anea muss mehr Distanz halten, auf diesem Weg gibt es nur wenig Deckung. Ihr Mantel hilft ihr, aber macht sie nicht vollkommen unsichtbar. Plötzlich hört sie keine Stimmen mehr, nicht die Sprache der Yps, noch das Stöhnen der Kinder, die immer angetrieben werden müssen.
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