„Eine Waffe? Was ist das? Und wofür brauche ich das?“, fragt sie.
„Das wirst du sehen, wenn du dich wehren musst. – Nimm den Pugio.“ Er zieht die Waffe am Griff aus der kunstvoll gewickelten Blätterscheide. Ein matt glänzendes, grauschwarzes Ding kommt hervor, mit einer leichten Einschnürung nach dem Heft bevor es schmal und dünn zur Spitze ausläuft, ein Handschutz und einen Knauf bieten einen festen Griff. Die Waffe ist mindestens doppelt so lang, wie es die Länge der Scheide vorgibt, länger als ihr Unterarm. Larus dreht den Pugio im Licht des Waldes, die Klinge spiegelt kein Licht, sie wirkt bedrohlich.
„Die Waffe birgt Kniffe. Der erste Kniff ist dir aufgefallen, die Klinge ist mehr als doppelt so lang wie die Scheide. Und der zweite Kniff ist: Eine Schneide der Klinge ist mit einem todbringenden Gift bedeckt, nur du kannst die Schneide erkennen.“
Er beugt sich nach vorne, legt den Pugio flach auf seinen großen Handteller einer Hand und legt einen Finger auf eine Klingenseite.
„Schau genau hin, nur du und kein anderer wird die Seite erkennen. Ich werde die Seite vergessen, wenn du gegangen bist.“
Anea schaut auf die Waffe. Sie sieht merkwürdige Zeichen in der Mitte der Klinge, aber dann erkennt sie die vergiftete Seite der Klinge.
„Wenn du einen Feind mit dieser Seite verletzt, wird er in wenigen Sekunden in Starre verfallen und nach wenigen Augenblicken ausgelöscht sein.“
Larus steckt den Pugio wieder zurück. An der Scheide ist ein breites faseriges Band befestigtes, welches jenem, mit dem sie die Beutelschuhe schnürte, ähnelt. Anea nimmt den Dolch, hängt ihn um. Er baumelt nun an ihrer linken Körperseite.
„Jetzt bist du bereit.“
„Du sprachst von einer Aufgabe?“, fragt Anea.
„Ich führe dich durch den Wald. Dann gehst du in Richtung der Mittagssonne weiter, bis du in ein schönes Land vor einer Bergkette kommst. Du erkennst den Ort daran, da die Berge besonders schroff aus dem Land hervortreten, manchmal sonderbar sind und steile Hänge besitzen. In dem fruchtbaren Land vor den Bergen leben die Icks. Es sind friedliche Wesen. Sie leben in einer geheimnisvollen Verbindung mit den Yps, die in den Bergen, in Höhlen leben, regelmäßig das Land überfallen und Kinder der Icks rauben und in ihre Höhlen verschleppen. Was dort mit diesen Kindern passiert ist unbekannt. Das Verhalten der Icks ist seltsam. Sie leisten keinen Widerstand, obwohl sie zahlreicher sind als die Yps. Es wäre ein Leichtes für sie, eine Truppe aufzustellen, zu bewaffnen und den Yps zu trotzen. Aber sie tun es nicht. Sie überlassen ihre Kinder den Yps. Ein dunkles Geheimnis liegt über den beiden Völkern. Finde heraus, woraus es besteht. Befreie die Kinder aus den Händen der Yps und bringe sie zurück. Das wird dir Aufschluss geben.“
Ein Geheimnis?
„Was ist ein Geheimnis?“, fragt Anea.
Einen Augenblick später.
„Ja ich weiß. Ein Geheimnis ist etwas das keiner wissen darf, außer ganz wenige.“
„So ist es. Und du sollst herausfinden, was dieses Geheimnis ist. Wir gehen.“
Larus schreitet voran, schaut nicht nach hinten. Er ist gewiss, sie folgt ihm. Manchmal scheint er mit dem grünen Dickicht zu verschmelzen, gleitet behänd zwischen riesigen Farnzweigen, von den Bäumen hängenden Pflanzenschlingen und in den Weg ragende Zweige hindurch und vorbei. Anea folgt ihm. Sie merkt, dass der Mantel Schutz vor zurückschnellenden Ästen und dicken Farnzweigen bietet.
So wandern sie schweigsam hintereinander durch Dickicht und Unterholz, bis das Licht der Sonne, das vermehrt bis an den weichen Boden dringt, das Ende des Waldes ankündigt. Larus verharrt plötzlich und dreht sich zu Anea um:
„Da vorne endet der Wald. Meine Mission ist hier erfüllt, vorerst. Du gehst weiter wie beschrieben. Merke dir die Stelle genau, an der du aus dem Wald trittst, denn zurück zu mir findest du nur an diesem Ort, aber das wird dir nicht schwer fallen. Wenn du zurück bist, brauchst du nicht lange zu warten. Ich werde da sein.“
Anea schaut nach vorne, in Richtung Waldgrenze. Sie hört einen seltsamen sanften Akkord aus drei Tönen in ihrem Inneren, dreht sich um, aber Larus ist verschwunden.
Anea geht weiter, wenige Schritte, und sie schaut auf eine weitläufige, hügelige Wiesenlandschaft, manchmal unterbrochen durch lockeren Baumbestand, durch Hecken umrahmte Felder, das Gelände stetig ansteigend, in schroffe Hügelformationen übergehend, manche Hügel geformt wie Kegel, manchmal aufgeworfen zu einer steilen, von Granitfelsen durchzogenen Wand, deren Ende die Landschaft auf ein höheres Plateau zu heben scheint. Hinter diesen Hügel lugen graue und glitzernd weiße Bergspitzen hervor.
Achtung!
Sie muss sich die Stelle merken. Sie schaut nach rechts den Waldsaum entlang, registriert die Formation des Geländes, sie schaut nach links, sieht die in der Ferne aufragende Bergspitze, blickt nach vorne, verankert die geometrische Struktur der Felder in ihrem Inneren.
Sie weiß, sie wird die Stelle wieder finden.
Anea wandert in Richtung Sonne, die nicht mehr bedrohlich über ihr steht, wie im Wüstenstreifen aus dem sie kam, sondern ihr Licht schräg über die Berge auf die Landschaft wirft.
Anea wandert ruhig und ausdauernd. Bald findet sie einen Weg, der aus zwei parallel laufenden Spuren besteht, die weniger mit Gras bewachsen sind als das übrige Land. Der Weg führt in Kurven über das Hügelland, an Baumgruppen und akkuraten Feldern vorbei, die manchmal mit langen Halmen, die in dicken haarigen Ähren enden, oder mit kurzem grünblättrigen Kraut, bepflanzt sind.
Ein Geräusch, über ihr, in dieser blauen Glocke, die über dieser Welt liegt. Ein Zirpen, ein Trällern, seltsame Töne. Sie sieht das Wesen, das durch die Luft flattert und sich auf der braunen Erde eines Ackerbodens niederlässt, auf dem schon andere Artgenossen mit auf und ab nickenden Köpfen in der Erde picken.
Eins, zwei schwarze Schatten, ebenfalls durch die Luft schwebende Wesen, kommen herbei und lassen sich auf dem Ackerboden nieder. Sie sind größer als die ersteren und schreiten majestätisch ruckartig vorwärts, zeigen mit ihren kräftigen Schnäbeln mal hier und mal dort hin. Die Kolonie der kleineren Wesen flattert laut schimpfend auf, steigen in sichere Höhe, drehen eine Kurve wie von einem Anführer gelenkt und lassen sich in der gegenüberliegenden Ecke der freien Ackerfläche nieder.
Was sind das für Wesen, die durch die Luft laufen können?
‚Vögel!’, antwort die Stimme aus ihrem Inneren. ‚Sie fliegen’.
Und was raschelt da drüben in den Hecken?
‚Ein Tier!’
Sie glaubt, ein glitzerndes Augenpaar in der Dunkelheit des Unterholzes zu sehen, das sie neugierig beobachtet. Sie lauscht nach innen. Ist da etwas, das ihr sagt, von diesem Tier geht Gefahr aus? Nein, sie spürt nicht das warnende Signal der Gefahr, so wie sie es wahrnahm, als sie aus dem Sandloch kroch. Dann dreht das Tier um und verschwindet gelangweilt im Blattwerk. Anea sieht flüchtig die Umrisse des Wesens, klein, weitaus kleiner als sie.
Sie wandert weiter Richtung Sonne, die unbeweglich über den Bergen steht und ein mildes, angenehmes Licht auf die Landschaft wirft. Das Gelände steigt an, aber die Hügel rücken kaum näher. Nach einer Kuppe schaut sie in eine flache Senke, die eine größere Ausdehnung besitzt und bis zu den ersten schroffen Hügeln reicht. In der Ferne ragen seltsame, ja was, Bauwerke, aus dem Gelände, aus Holz der Bäume gefertigt, manchmal auch teilweise aus Stein; abgeschlossen von nach beiden Seiten schräg nach unten laufenden vergilbt schimmernden dickem Blattwerk.
Und nun hört Anea auch Stimmen von Wesen, die in der Umgebung der Hütten auf Feldern und Wiesen beschäftigt sind. Sie ähneln den Geschöpfen, die mit ihr in der Wüste vor dem Moloch zu flüchten versucht haben. Dann sehen sie mir ähnlich, stellt Anea fest. Aber diese Wesen besitzen unterschiedliche Größen, teilweise sind sie hoch gewachsen, dann folgen alle Größenabstufungen, bis zu zwergenhaftem Wuchs. Besonders diese Sorte hüpft und wuselt um die Größeren herum oder sie jagen in kleinen Gruppen um einander.
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