Katharina lernte in den nächsten Stunden völlig neue Begriffe. So sei die Dänische Volkspartei von einem Wohlfahrtstaatschauvinismus geprägt. Merkwürdiges Wort, was so alles von der Politikwissenschaft an Wortschöpfungen kreiert wurde. Jedenfalls hatten es die Strategen der Dänischen Volkspartei geschafft, nationalistische und fremdenfeindliche Inhalte mit sozialdemokratischer Sozialpolitik zu einer besonderen Melange zusammen zu rühren und damit im bürgerlichen Spektrum wählbar zu werden. So war es der Partei gelungen, seit 2001 in verschiedenen Regierungskoalitionen oder unter Duldung von Minderheitsregierungen die dänische Einwanderungspolitik erheblich zu verschärfen. Das Abschneiden bei der aktuellen Europawahl würde der Partei mit Sicherheit neuen Auftrieb geben. Nationales und ausländerfeindliches Gedankengut sickerte Dank der Volkspartei in die gesellschaftliche Mitte Dänemarks und gewann an Legitimierung.
Katharina musste unweigerlich an die spannende und vielschichtige Politik-Serie Borgen – Verbotene Seilschaften denken. Aufgehängt an einer fiktiven charismatischen Politikerin – sehr überzeugend gespielt von Sidse Barbett Knudsen - zeigte dieser Mehrteiler, wie dänische Politik hinter den Kulissen funktionierte, wie Ideale wegen einer aktuellen Machtoption aufgegeben wurden und wie ein Spin-Doktor eine Regierung steuerte. Gerade diese Figur des Caspar Juul hatte es Kathrina angetan. Die Sendungen waren nie holzschnittartig, die Personen differenziert – ein tolles Format, das im letzten Herbst auf arte gezeigt wurde. Katharina hatte keine Sendung verpasst.
Katharina telefonierte kurz mit dem Pressesprecher des SSW, ja, ein schriftliches Statement von Anke Sporrendonk würde in Kürze ins Netz gestellt. Gut, damit hatte sie einen wichtigen Baustein für ihren Artikel. Katharina stolperte bei ihrer weiteren Recherche noch über etwas anderes. Der Hamburger Journalist Lars Meyer hatte vor zwei Jahren ein kurzes Portrait von Pia Kjærsgaard veröffentlicht.
Kjærsgaard hatte die Dänische Volkspartei mitgegründet und war bis 2012 ihre Parteivorsitzende gewesen. Die Dame hatte die Partei eisern geführt und unter anderem mit Hetzparolen gegen Muslime und einem Pfeffersprayangriff gegen eine Frau von sich reden gemacht. Lars Meyer , was für ein Zufall.
Katharina blickte aus dem Fenster. Ein paar schemenhafte Erinnerungen an Lars Meyer tauchten auf. Er war wie Walter Ramm Dozent bei Henri-Nannen gewesen. Ein eher stiller Typ, klassischer Schreibtischtäter mit einer zugegeben spitzen Feder. Doch im Grunde wusste sie nichts über diesen Kollegen.
Katharina zwang sich, wieder auf den Bildschirm zu schauen. Über Rechtsradikalismus in Dänemark gab es keine einheitliche und vor allem keine umfassende Informationslage. Reinhard Wolf, der Skandinavien-Korrespondent der taz, hatte 2011 einiges dazu geschrieben. Katharina überflog mit großem Interesse dessen Artikel. Offenbar hatte damals der dänische Verfassungsschutz Politiets Efterretningstjeneste, kurz PET, aufzeigen können, dass sich neue Gruppierungen und bislang unbekannte Logen formierten und versuchten, die nationale und rechtsradikale Szene Dänemarks neu zu organisieren. Die Gewaltbereitschaft war klar auf dem Vormarsch und die etablierten Parteien fanden kaum Antworten auf diese Entwicklung.
Katharina klickte sich wieder in ihren Text und schrieb in der nächsten halben Stunde wie in einem kreativen Rausch. Selbst der Kaffee in ihrem Lieblingsbecher wurde kalt. Letzter Schliff, hier noch eine andere Formulierung, das Zitat vom SSW machte sich gut, die Füllwörter raus. Fertig. Ein gutes Gefühl.
Katharina schmiss ihren Haustürschlüssel auf die kleine Anrichte im Flur. Feierabend, Der dänische Artikel , wie sie ihn nannte, hatte auch Henning Haupt gefallen, nachdem er einen Blick drauf geworfen hatte.
»Gute Arbeit«. Das waren, kurz bevor sie die Redaktion verlassen hatte, die aufmunternden Worte gewesen, die jetzt noch nachklangen. Katharina war beschwingt in die Bahn gestiegen, hatte ein paar Lebensmittel im Supermarkt um die Ecke gekauft und war nun endlich in ihrer Wohnung angekommen.
Sie hatte mit viel Glück eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Horn gefunden. Noch von Berlin aus war sie mehrere Male nach Hamburg gefahren, hatte die üblichen Portale bemüht, das Hamburger Abendblatt studiert und war schließlich bei einer kleinen Wohnungsbaugenossenschaft fündig geworden. Ein paar Möbel konnte sie vom Vormieter übernehmen, der Rest war schnell bei stilbruch in Wandsbek organisiert. Der Second-Hand-Laden für Möbel bot eine erstaunliche Auswahl, den Hamburgern schien es gut zu gehen. Besonders freute sie sich über das braune Knautschsofa aus Leder, richtig gemütlich. Und wen stören schon ein paar abgewetzte Stellen an der Lehne.
Katharina schaute sich im Garderobenspiegel in die Augen. Die letzten zwei Jahre waren nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Die Stirn hatte eine senkrechte Furche mehr, ein ernster Ausdruck schlug ihr entgegen. Sie stützte sich auf die Anrichte, senkte den Kopf. Es war nicht leicht gewesen. Von ständiger Angst betrieben, Brücken abzubrechen und ein Morgen kaum formulieren zu können.
Ihre Eltern waren am Anfang das größte Problem. Wie das Notwendige im Unglaublichen erklären? Die Eltern hatten von ihrer kleinbürgerlichen Warte aus schon das Ökotrophologiestudium mit schweigsamer Skepsis kommentiert und die Wahl, Journalistin zu werden, gar nicht mehr nachvollziehen können. Nach ihrer überhasteten Flucht aus Hamburg tat sich Katharina schwer damit, sich von Frankfurt aus bei ihnen zu melden. Sie wusste, dass sich ihre Eltern unendliche Sorgen machten. Aber was sollte sie erzählen? Ein ermordeter Freund, die Pharmaindustrie sei nun auch hinter ihr her? Ein maskierter Mann hätte mitten in der Nacht im Schlafzimmer eines anderen Mannes, den sie seit drei Tagen kannte, genau neben ihr in die Wand geschossen? Sie hörte das eindringliche Ploppen des Schalldämpfers heute noch.
Üblicherweise meldete sie sich alle zwei bis drei Wochen telefonisch bei ihren Eltern, die in einer kleinen Stadt in Schleswig-Holstein lebten. Irgendwann war mehr als ein Monat vergangen und Katharina hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben. Ihre alte Wohnung war Vergangenheit, ihr Festnetzanschluss gekündigt und auch ihre Handynummer gab es nicht mehr. Sie hatte noch am Bahnhof, als sie auf den Zug Richtung Frankfurt wartete, die SIM-Karte zerstört. Sie vermutete, dass sich ihr Vater irgendwann ins Auto setzen würde, um nach Hamburg zu fahren. Er würde bei ihr klingeln, vielleicht schon ein fremdes Namenschild an der Wohnungstür sehen. Bei Henri-Nannen nachfragen und spätestens dann eine Vermisstenanzeige aufgeben.
Das konnte und wollte Katharina nicht riskieren. Sie konnte aber auch nicht einschätzen, ob der Mörder von Walter nicht auch ihr Elternhaus überwachte. Sie waren mit Sicherheit noch hinter ihr her. Schließlich entschied sie sich für einen Brief an die Eltern, der eine schwierige persönliche Phase und einen daher notwendigen Bruch mit Hamburg darlegte – ohne freilich zu verraten, warum sie die Ausbildung abgebrochen hatte und wo sie sich gerade aufhielt. Am Ende der mageren Zeilen bat sie inständig um Vertrauen und versprach, sich alsbald telefonisch zu melden.
Ihre Eltern hatten diese Episode schließlich akzeptiert, nach mehreren strittigen Telefonaten aufgegeben, nach Details zu fragen und letztlich die bittere Ausgrenzungspille, die ihre Tochter ihnen vor die Füße geworfen hatte, geschluckt. Nun waren sie überglücklich, Katharina wieder in ihrer Nähe zu wissen. Am übernächsten Wochenende stand ein Besuch der Beiden in ihrer neuen Wohnung an.
Katharina ging in die kleine Küche und machte sich einen Salat. Das Grünzeug begann ab Mai wieder zu schmecken und spätestens als sie den Schafskäse aus der Verpackung holte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und beschmierte das Baguettebrötchen mit frischer Butter. So, jetzt ging es ihr schon etwas besser.
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