Der sechste X-men-Film - natürlich in 3D – war gut. Sie hatten vermutet, dass die neue Geschichte der mannigfaltigen Mutanten rund um den Hauptprotagonisten Wolferine, erneut genial verkörpert von Hugh Jackmann, wenig Neues bieten würde. Die Charaktere waren in den vorangegangenen Filmen reichlich ausgeleuchtet, jeder Plot musste sich beinah zwangsläufig auf ausgetretenen Pfaden bewegen. Aber der Film bot dennoch einiges Neues und bestach durch seine Tricktechnik. Intelligentes Popcornkino vom feinsten, nicht mehr aber auch nicht weniger hatten Nik und Lars von diesem Abend wartet.
Der Kinokomplex direkt am Bahnhof Dammtor spülte sie schließlich mit den anderen Gästen wieder auf den Vorplatz. Dort vertrieb sich eine wachsende Zahl vornehmlich junger Leute die Zeit bis zum Beginn der Spätvorstellung mit Bierflaschen, Zigaretten und lautem Gehabe. Die beiden Männer verabschiedeten sich noch vor dem Kino, nahmen sich etwas unbeholfen in die Arme und verabredeten sich locker für die bereits angekündigte Avenger-Produktion . Ein letztes Grinsen, Lars Meyer ging mit einem Wink Richtung Gänsemarkt. Nik wandte sich Richtung Dammtor-Bahnhof, um von dort mit der S-Bahn nach Hause zu fahren.
Lars Meyer hatte in der Drehbahn, einer kleinen Seitenstraße der Dammtorstraße, seinen Wagen abgestellt und wollte nun schnell nach Hause. Es war Ende Mai und mittlerweile dunkel geworden. Abseits der großen Straßen waren kaum noch Menschen unterwegs. Er bog mit raschen Schritten rechts in die Drehbahn, eine enge Straßenschlucht mit hohen Häusern. Eine dumpfe Dunkelheit nahm ihn auf, der Straßenlärm der Dammtorstraße brandete nur noch gedämpft an seine Ohren. Auf der gegenüberliegenden Seite nahm er schemenhaft eine Person vor einer dunklen Hauswand wahr, sonst lag die Straße verlassen vor ihm. Endlich sah Lars Meyer das Dach seines schwarzen Audi A 3 im fahlen Licht der Straßenlaterne auftauchen.
Er kramte Gedanken versunken den Autoschlüssel aus der Jackettasche hervor und ging am Heck seines Autos entlang auf die Straße, um zur Fahrertür zu gelangen. Die gelben Blinker leuchteten kurz auf, die Türen entriegelten sich mit leisem Klacken. Lars Meyer zog die Tür auf und wollte einsteigen. In diesem Augenblick drückte sich energisch kaltes Metall gegen seinen Hals. Er hatte den Mann von der anderen Straßenseite nicht kommen hören, alles ging rasend schnell.
»Einsteigen!« sprach eine leise, aber schneidende Stimme mit leichtem Akzent. Lars Meyer versuchte irrwitziger Weise die sprachliche Herkunft des Mannes einzuordnen, osteuropäisch klang es nicht. Aber sein Körper war von Angst bereits geflutet, augenblicklich brach Schweiß aus und all seine Muskeln verkrampften sich. Der Mann drückte den Kopf von Lars Meyer unsanft nach unten und stieß ihn entschlossen in das Auto. Meyer rutschte über die Mittelkonsole auf den Beifahrersitz und prallte gegen die Beifahrertür. Er hatte noch nicht seine Beine sortiert, als ihn ein Schlag mit voller Kraft ins Gesicht traf.
Es war seine letzte Fahrt an diesem Abend. Vor neun Jahren hatte Peter Reincke als Lokführer bei der metronom-Gesellschaft angefangen und den Wechsel von der Deutschen Bahn nur selten bereut. Das junge private Unternehmen mit den gelb-blauen Doppelstockwagen hatte damals attraktive Löhne geboten, die Stimmung im Team war von Aufbruch und Euphorie geprägt.
Uelzen war heute seine Endstation – wie so häufig. Den Zug noch ins Depot, dann ab nach Hause. Am Rande der Stadt mit dem bekannten aber auch irgendwie deplazierten Hundertwasser-Bahnhof hatte sich Peter Reincke mit seiner Frau Luise vor fünf Jahren ein kleines Reihenhaus gekauft. Nestbau, erstes Kind, alles gut. Mit dem unregelmäßigen Dienst kam er zurecht, das Eigenbrödlerische auf dem Führerstand lag ihm. Seine Frau sorgte für das Haus und verdiente mittlerweile als Arzthelferin ein paar Euro dazu, wenn die Kleine morgens in der Kita war. Sie hatten sich eingelebt, sonntags wurde hin und wieder mit den Nachbarn gegrillt.
Diese Strecke war er schon oft gefahren, die Uhr zeigte 0.56 Uhr. Peter Reincke versuchte sich auf die Fahrt zu konzentrieren und der schleichenden Müdigkeit ein Schnippchen zu schlagen. Die verwaisten Bahnhöfe Meckelfeld, Maschen und Ashausen hatte er passiert, kaum jemand war ein- oder ausgestiegen. Um diese Zeit spülte das reiche Hamburg nur noch wenige Pendler oder Glücksritter in den Speckgürtel, vielleicht würden in Winsen oder Lüneburg noch ein paar Verirrte die letzte Bahn nach Uelzen nutzen.
Die Signale standen auf grün, 95 km/h war die Geschwindigkeitsvorgabe der Leitstelle für diesen Abschnitt, in drei Minuten runter auf 60, dann bremsen für Winsen. Brückenpfeiler tauchten aus dem dunklen Nichts im Scheinwerferlicht der Lok auf, dann sah Peter Reincke kurz vor seiner Lok einen menschlichen Körper auf die Gleise fallen. Er drückte instinktiv die Bremse, Notstopp. Die Bombardier-Lok, 83 Tonnen schwer und sechs Wagons im Rücken, kam nach Anspringen der Druckluftbremsen erst nach einigen hundert Metern zum Stehen.
Auch in den Tagen danach würde sich Peter Reincke kaum an Details erinnern. Trotzdem gingen ihm immer wieder diese Sekunden durch den Kopf. Kurz war etwas Stoffartiges zu sehen gewesen, möglicherweise ein flatternder Mantel. Dann bleich blitzend, eine Hand im Licht der Scheinwerfer. Der skurrile Schatten schlug auf die Gleise. Es war ihm sofort klar gewesen - das ist ein Mensch. Irgendein armer Tropf hatte sich eine Brücke an einer einsamen Landstraße zwischen Winsen und Ashausen gesucht und war in den Tod gestürzt. Vor seinen Zug, den letzten, der in dieser Nacht nach Uelzen fuhr.
Personenschaden hieß es auf Amtsdeutsch, die Strecke blieb mehr als vier Stunden gesperrt. Fernzüge mussten über Rotenburg umgeleitet werden, Notarzt, Polizei, Spurensicherung, das ganze Programm. Er hatte eine dieser glänzenden Folien um die Schulter bekommen. Jemand versuchte es mit beruhigenden Worten, die er kaum wahrnahm. Fragen erreichten ihn wie durch einen Schleier, ohne dass er eine Antwort fand.
Er musste an Frank Maiwald denken. Ein Kollege, dem erst vor ein paar Monaten ein 15jähriger Junge vor die Lok geraten war. Frank war seitdem stiller, ging einem aus dem Weg, kein spontanes Feierabendbier mehr. Sichtbar nagte dieser Alptraum an ihm und frischte immer wieder die Farbe der Augenringe auf. Reincke kannte die Zahlen, statistisch erlebt jeder Lokführer während seiner Berufslaufbahn drei Selbstmorde. Er zog die Schutzfolie enger, schüttelte den Kopf - noch zwei also.
Sie hatten den schwarzen Audi von Lars Meyer kurz vor der Brücke an einem Feldweg geparkt, abgeschlossen und den Schlüssel ins Gebüsch geworfen. Der Ort war ideal, sollte tatsächlich um diese Zeit noch jemand die einsame Landstraße nutzen, würden sie den Lichtkegel des Autos rechtzeitig entdecken.
Lars Meyer war ein großer, leicht übergewichtiger Mann, brachte bestimmt an die 100 Kilo auf die Waage. Die beiden Männer kamen ins Schwitzen und fluchten, als sie den Körper am Geländer der Brücke in Position brachten. Sie hatten sich die Fahrpläne des metronom eingeprägt und von Norden sahen sie bereits die drei Scheinwerfer der Lok näher kommen. Sie achteten auf die Oberleitung, der Körper musste möglichst seitlich davon runter fallen, damit die volle Wucht des Zuges den Körper traf. Viel würde von diesem nicht übrigbleiben, sie hatten damit Erfahrung.
Der bewusstlose Körper war wie gewünscht kurz vor der Lok auf die Gleise geprallt. Sten Brorson drehte sich um und schaute dem Zug nach. Sekunden später nahm er das Kreischen der Räder wahr. Stahl auf Stahl, er meinte kurz ein paar Funken in der leichten Rechtskurve vorne an der Lok zu sehen. Er gab seinem Kameraden ein Zeichen zum Aufbruch. Jetzt weg hier, Zeugen konnten sie nicht gebrauchen. Die beiden Männer liefen schnell zum bereit stehenden Van, den sie unweit der Brücke geparkt hatten. Sten Brorson setzte sich ohne weitere Worte ans Steuer und fuhr Richtung A 39. In spätestens drei Stunden wollte er in Tondern sein.
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