Auf der Fahrt Richtung Norden, sie hatten mittlerweile den Elbtunnel hinter sich gelassen, ging Sten Brorson noch einmal den letzten Tag durch. Nein, einen Fehler, verräterische Spuren oder Ungereimtheiten konnte er nicht ausmachen. Beim ersten Zusammentreffen im Wagen von Lars Meyer hatte er Handschuhe getragen und den Schlag ins Gesicht so platziert, dass die Nase nicht zu bluten anfing.
Er erinnerte sich gut an den Anruf ein paar Tage zu vor. Diesmal also nach Deutschland, genauer gesagt Hamburg. Ein unbequemer Schreiberling musste beseitigt werden und zwar gründlich. Gründlich war ein Todesurteil und der Chef skizzierte mit dem ihm eigenen kurzen Kommandostil seine Vorstellungen davon. Die weiteren Daten würde Sten Brorson über den üblichen verschlüsselten Mailkontakt erhalten. Er hatte ohne weiteres Nachdenken den Auftrag angenommen, kurze Zeit später kannte er die Adresse der Zielperson und prägte sich das Foto im Anhang der Mail gut ein.
Sie ließen gerade die Abfahrt Itzehoe-Nord hinter sich. Frederick Mickelsen schlief auf dem Beifahrersitz und atmete ruhig. Auf Mickelsen war Verlass, er stellte keine Fragen, war zutiefst loyal gegenüber der gemeinsamen Sache. Er hatte Brorson sofort zugesagt, Zeit hätte er jede Menge und bei der Bezahlung – na klar. So waren die beiden Männer am Freitag nach Hamburg aufgebrochen. Der Rest war fast schon Routine gewesen, der Kinobesuch eine Steilvorlage.
Sten Brorson hatte mit Lars Meyer, der eingeschüchtert auf dem Beifahrersitz seines eigenen Wagens saß, schnell die Hamburger Innenstadt hinter sich gelassen und war Richtung Harburg gefahren. Dort wartete am Rande eines verlassenen Industriegeländes Frederick mit dem Van. Brorson zehrte den Journalisten in den anderen Wagen und überließ die präzisen Schläge diesmal seinem Kameraden. Nachwuchsförderung , er musste selbst lächeln über diese Wortwahl. Aber gerade bei Menschen aus der sogenannten Bildungselite brauchte es meist nicht viel und sie taten wie geheißen. So auch Lars Meyer. Nach den üblichen Phrasen, was sie denn von ihm wollten und dies und das wisse er wirklich nicht, zeigte er sich drei gezielte Fausthiebe später deutlich kooperativer. Als erstes schrieb er die genannten Worte auf ein Stück Papier. Der nächste Teil der Operation war etwas schwieriger. Sie mussten Lars Meyer dazu bringen, dass er sich bei der Sternredaktion auf den Redaktionsserver einloggte. Der Auftraggeber hatte verlangt, dass bestimmte Texte gelöscht werden sollten. Als Lars Meyer realisierte, was von ihm verlangt wurde, bäumte er sich noch einmal auf. Ihm schien mittlerweile klar zu sein, dass dies böse enden könnte. Nach weiteren Schlägen röchelte er schließlich sabbernd und weinend aufhören, aufhören und Mickelsen ließ von ihm ab.
Lars Meyer gab nach und wählte sich mit zittrigen Fingern ein. Er vertippte sich zweimal, da sein linkes Auge bereits leicht zugeschwollen war und die Hände zitterten. Doch schließlich zeigte der Monitor die nach Themen geordneten Verzeichnisse an. Der betreffende Ordner war schnell gefunden. Er ließ erschöpft und voller Schmerzen den Laptop los und rutschte seitlich gegen die kalte Metallwand der Vans. Was genau die Männer mit seinen Dateien taten, konnte er nicht mehr nachvollziehen. Sein Auge schwoll immer weiter zu, mit dem anderen suchte er panisch nach einem Ausweg.
Am nächsten Morgen fand die Polizei schnell heraus, wer der Tote auf den Bahngleisen zwischen Ashausen und Winsen gewesen war. Sie hatten den Halter des offenbar herrenlosen Fahrzeuges in der Nähe der Brücke ausfindig gemacht. Lars Meyer, Journalist, wohnhaft in Hamburg, 46 Jahre alt. Nach ein paar Telefonaten wussten die Ermittler, dass dieser Lars Meyer am heutigen Morgen nicht wie gewohnt in der Stern-Redaktion erschienen war und weder eine Krank- noch eine Urlaubsmeldung vorlag. Eine Beamtin war zur Wohnung von Lars Meyer nach Hamburg-Ottensen gefahren und traf auch dort niemanden an. Die Spurensicherung fand schließlich noch an der Strecke einen blutverschmierten, nur leicht beschädigten Personalausweis.
Für die Polizei ergab sich nach wenigen Stunden ein relativ klares Bild. Alles deutete auf Selbstmord hin. Jedes Jahr brachten sich rund 10.000 Menschen in Deutschland um, meist Männer. Der Rest war Routine, auch wenn der Chef von Lars Meyer in einem Telefonat mit der Polizei einen Suizid für wenig wahrscheinlich hielt. Solche Einschätzungen hörte man häufiger von Verwandten und Bekannten, wer kann schon in andere Menschen hineinschauen. Bei Lars Meyer räumte schließlich die kurze Notiz mit seiner Handschrift, die man im Auto gefunden hatte, letzte Zweifel aus. Ich kann nicht mehr stand dort mit zittrigen Buchstaben notiert. Verwandte hatte Lars Meyer offenbar kaum, die Eltern in der hessischen Heimat waren schon vor Jahren verstorben. Nur eine Schwester war der Stern-Redaktion bekannt, die aber in den USA lebte. Man hoffte, diese würde sich schnell melden, damit man die Leiche zur Bestattung freigeben konnte. Und dann würde man die Akte schließen.
Es war der Tag nach der Europawahl. Der Mai entließ sich aus seiner kalendarischen Verantwortung mit einem überzeugenden blauen Himmel und ignorierte damit die politische Stimmung in vielen europäischen Hauptstädten. Bei der taz hamburg wurde vor allen das Abschneiden der rechtsradikalen Parteien diskutiert. Wilders in den Niederlanden, UKIP in Großbritannien, Goldene Morgenröte in Griechenland – unfassbar. In Frankreich avancierte der Fron National sogar zur stärksten Partei des Landes. Die Tochter eines ausländerfeindlichen Irrläufers inszenierte sich erfolgreich als Jeanne d´Arc der Neuzeit – einfach widerlich. Aber auch das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in den wirtschaftlich stabilen skandinavischen Ländern ließ aufhorchen. Die Dänische Volkspartei war stärkste Kraft im Land geworden und in Schweden bekamen die sogenannten Schwedendemokraten viel Zuspruch vom Wahlvolk.
»Guten Morgen, Ladies und Gentleman – wir haben eine Wahl zu bewerten. Die Bundes- und Europaebene macht Berlin. Wir brauchen einen Bezug zu Norddeutschland, zu Hamburg. Also, gibt es Verbindungen beispielsweise der Goldenen Morgenröte nach Hamburg? Wie viele Griechen leben hier und was sagen diese zu den Wahlen in ihrem Heimatland, der Wiege der Demokratie? Wer ist Hamburgs französische Partnerstadt und wie hat der Fron National dort abgeschnitten? Was sagt Olaf Scholz dazu? Und gibt es vom SSW in Schleswig-Holstein eine Kommentierung zu den Ergebnissen in Kopenhagen?«
Redaktionsleiter Henning Haupt war voll in seinem Element, wirbelte wichtige Fragen in die Redaktionssitzung.
»Und wie sieht es in Hannover und Bremen aus, ich hoffe ihr seid schon wach?«
Mittlerweile waren auch die Kollegen aus Bremen und Hannover zugeschaltet, es gab ein kurzes Winken und ein Hallo über den Monitor aus Bremen und ein unverständliches Grunzen über die Telefonanlage aus Hannover. Die Videokonferenz klappte mit den Niedersachsen immer noch nicht – man beließ es notgedrungen seit Monaten beim Audio-Kontakt.
Henning Haupt verstand es immer wieder, sein Team zu motivieren, wenngleich in schlechten Zeiten sein Zynismus auch manchmal nerven konnte. Und schlechte Zeiten gab es bei der taz regelmäßig, die ökonomischen Rahmenbedingungen des Blattes waren immer angespannt. Zuwenig Genossen, zu wenig Abonnenten, zu wenig Anzeigenkunden. Aber Haupt war schon seit 17 Jahren bei der taz , war in Hamburg gut vernetzt und hörte das Gras meist früher als seine Kollegen vom Hamburger Abendblatt wachsen.
Henning übernahm heute auch den Job als CvD - Chef vom Dienst. Nachdem sie das Für und Wider einzelner Themen durchgesprochen hatten, ging er seine Notizen durch und legte die Verantwortlichen für die einzelnen Themen fest, für die sich bislang noch keiner zuständig fühlte.
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