MacGarney grinste gehässig: „Keine Sorge, hier entsteht kein falscher Eindruck. Sie haben ja schon gesagt, dass Sie die Produkte nicht verstanden haben.“
Lamrad schnappte nach Luft, aber bevor er auf die unflätige Bemerkung eingehen konnte, ging Beyl zur nächsten Frage über: „Hatte er hier Kollegen? Oder Feinde? Freunde?“
„Lassen Sie mich mal überlegen: Freunde? Nein. Feinde - eher nicht. Kollegen? Puh.“ Er kratzte sich am Kopf: „Die sitzen alle in ihren engen Räumen und hämmern den ganzen Tag auf ihre Maschinen ein. Kann man es Kollegen nennen, wenn sie sich auf dem Flur begegnen?“
Beyl notierte sich ein paar Sachen im Handy: „Hatte er denn einen Teamleiter oder so?“
Lamrad nickte: „Klar, unser Ober-Nerd. Philips.“
„Können wir mit ihm sprechen?“
Lamrad hatte nicht gelogen, als er von kleinen, engen Räumen gesprochen hatte. Die Technik-Abteilung befand sich im Keller, abgeschottet vom Rest des Betriebs. Beyl hatte den Eindruck, dass die Bank zwar die Dienste der Männer am PC brauchte, aber doch sicherstellen wollte, dass sie nicht versehentlich mit echten Kunden in Kontakt kamen.
Philips, Abteilungsleiter der Produktentwickler, saß in einem Büro, dass etwas größer zu sein schien als die übrigen Räume.
Er trug eine runde Brille, einen langen Pferdeschwanz und ein schlappriges T-Shirt. Er schaute nervös von einem Polizisten zum anderen. Lamrad hatte es vorgezogen, in seinem Büro zu bleiben.
„Guten Tag, Mr. Philips. Ich denke, Sie wissen, warum wir hier sind“, begann Beyl. Philips begann nervös mit den Augen zu klimpern.
„Es geht um Sebstein. Er ist tot. Schrecklich.“
„Genau.“ Beyl nickte. „Sie waren sein Vorgesetzter. Hatte Mr. Sebstein in der Bank Freunde oder Feinde?“
Philips legte den Kopf schräg und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf: „Nein. Hier bleibt jeder für sich allein. Sehen Sie, hier sind nur riesige Egos unterwegs. Jeder hält sich für den Besten.“
„Und Sie sind der Beste, weil Sie der Boss sind!“, sagte MacGarney, der Philips etwas aufbauen wollte. Der schaute nur irritiert: „Ich? Nein, die sind alle besser als ich. Aber ich habe ein gutes Händchen für Menschen.“
MacGarney schaute ihn sehr erstaunt an. Beyl half ihm aus: „Dann haben Sie sicher öfters mit Sebstein gesprochen?“
„Nein.“
„Aber Sie haben doch ein Händchen für die Leute hier. Das bedeutet doch, dass Sie mit ihnen sprechen, oder?“
„Nein.“
„Was bedeutet es denn dann?“ Beyl war verwirrt.
„Naja, ich weiß, was sie brauchen, um zu arbeiten. Was die optimalen Bedingungen sind. Und wenn Sie doch mal über ihre Arbeit sprechen, kann ich sie verstehen.“
MacGarney fuhr sich mit der Hand über seine Glatze: „Was genau machen Sie denn dann den ganzen Tag hier unten?“
„Ich?“
„Ja.“
„Ich überwache, dass jeder am Platz ist, dass es keinen Streit gibt...“
„Streit?“ MacGarney lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne.
„Ja. Manchmal gibt es Ärger. Zum Beispiel, wenn zwei an dem gleichen Problem arbeiten und der einer dann schneller fertig ist.“
„Kam das bei Sebstein auch vor? Dass er Streit hatte?“, fragte Beyl.
„Nein. Wenn er an ein Problem ging, haben sich die anderen rausgehalten. Er war sowas wie ein Rockstar. Er war der Beste.“
„Dann gab es doch bestimmt Leute, die neidisch auf ihn waren?“ Beyl zog sein Handy raus, um sich Notizen zu machen.
„Kann sein. Aber ich denke nicht, dass einer so wütend war, dass er ihn umbringen würde. Die meisten hier unten haben genug mit sich selbst zu tun.“
„Können wir sein Büro sehen?“
Philips stand auf. Beyl und MacGarney folgten ihm. Zwei Türen weiter blieb Philips stehen und öffnete eine Tür. Er tastete nach einem Lichtschalter, dann flammten die Neonröhren auf: Der Raum war... kalt. Weiß gestrichen, ein Schreibtisch, ein Stuhl.
„Wo ist denn der Computer?“, fragte MacGarney.
„Wir arbeiten mit Laptops. Die meisten nehmen die Sachen mit nach Hause und arbeiten dort weiter. Wie gesagt: Nicht viele Freunde.“
„Ist das nicht unsicher?“, fragte MacGarney.
Philips nickte: „Ja. Aber die Jungs sind so gut, dass die Direktion ein Auge zudrückt.“
Beyl hatte eine Idee: „Was für Computer benutzen Sie hier?“
Philips schaute ihn verwirrt an: „Das interessiert Sie?“
„Wir haben einen Rechner bei Sebstein gefunden. Wir müssten wissen, ob das sein Dienstrechner oder der Private war.“
„Mhmmm, das müsste ich drüben nachschauen. Jeder hat seinen individuellen Rechner. Damit er mit ihm auch gut zurechtkommt. Ich gucke mal eben. Sehen Sie sich ruhig um.“ Damit verließ er das Büro.
MacGarney schaute seinen Kollegen verwirrt an: „Meint der das ernst? Was sollen wir uns denn hier ansehen? Wenn ich länger als zehn Minuten hier arbeiten müsste, würde ich mir die Kugel geben.“
Beyl setzte sich auf den Stuhl: „Ja, das ist echt trist.“
„Das ist nicht trist. Das ist scheiße.“
Beyl sah seinen Kollegen vorwurfsvoll an. Der grunzte: „Ja! Ich bin höflich! Aber hier ist es doch echt ätzend!“
Philips kam zurück. Er hielt einen Ausdruck in der Hand: „So, hier die Systemdaten von Sebsteins Rechner.“
Beyl nahm den Ausdruck entgegen und warf einen Blick drauf: „OK“, sagte er und faltete ihn zusammen. Verstanden hatte er kaum was, aber das musste er nicht. Er würde den Zettel einfach an die Technik geben und die sollten sehen, ob der Rechner mit den Daten übereinstimmte.
„Kann ich sonst noch was für Sie tun?“, fragte Philips.
„Ich denke nicht“, sagte Beyl und man merkte Philips an, dass diese Antwort ihn sehr erleichterte.
„Wenn Sie meine Hilfe nochmal brauchen, können Sie sich gerne melden.“ Dieses freundliche Angebot war wohl eher eine Floskel, aber Beyl und MacGarney lächelten freundlich.
Beyl und MacGarney kehrten nach ihrem Besuch bei den Nerds auf das Revier zurück. Sie machten noch einen Abstecher in die Kantine, um sich einen Kaffee zu holen, und gingen dann in ihr Büro.
Auf dem Schreibtisch von MacGarney lag ein Haufen Umschläge.
„Was ist das denn?“, fragte Beyl. Sein Kollege stellte den Kaffee ab und ging die Umschläge durch: „Ich hatte doch gesagt, dass Sebstein sich seine Post ins Hotel bestellt hat. Der Nachsendeantrag. Das hier sind die Sachen, die seit seinem Tod zugestellt wurden.“
Beyl musterte den Haufen: „Das ist aber eine Menge Post.“
MacGarney stimmte ihm zu: „Vor allem sind die Schreiber ziemlich einseitig.“
„Was meinst du damit?“
„Es sind alles Banken.“ Er warf ein paar Umschläge auf Beyls Tisch, einen riss er auf. Er nahm den Brief raus und überflog ihn. „Aha“, sagte er. Dann nahm er einen weiteren Brief, riss ihn auf und studierte den Inhalt.
„Unser Mann scheint sich nach einem neuen Job umgesehen zu haben. Das sind Antworten auf ein Bewerbungsschreiben. Er muss ziemlich clever gewesen sein, denn die beiden Banken hier wollten ihn sofort haben.“
Beyl nahm einen Schluck von seinem Kaffee: „Das hat uns sein Boss aber nicht gesagt.“
„Vielleicht weiß er es nicht.“
MacGarney setzte sich auf seinen Stuhl: „Das könnte sein. Aber was hatte er nochmal über Sebstein gesagt? War das nicht, dass er ein goldener Esel war, den man unbedingt behalten müsse?“
„Da schwingt eine gewisse Ahnung mit.“
„Vielleicht werben sich die Banken die Goldesel ja gerne mal ab.“
Das Telefon auf Beyls Schreibtisch klingelte. Er nahm den Hörer ab, lauschte: „OK“, sagte er und stand auf.
„Komm mit“, sagte er. „Wir müssen los.“ Er ging mit strammen Schrittes zur Tür.
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