Die Fahrstuhltüren glitten auf: Ein klinischer Geruch drang sofort in MacGarneys Nase. Er verzog das Gesicht. Absolut ekelhaft!
Er ging einen kurzen Gang entlang und klopfte an eine Bürotür.
„Herein!“, rief eine bekannte und verhasste Stimme.
MacGarney öffnete die Tür und betrat das Büro. Lobs saß hinter seinem Schreibtisch und tippte mühsam einen Bericht in den PC.
„Wo haben Sie denn Ihren Kollegen gelassen?“, fragte er.
„Der hat zu tun. Sie werden mit mir Vorlieb nehmen müssen.“
Lobs Gesicht war anzusehen, was er davon hielt, aber er behielt jeden Kommentar für sich. MacGarney nahm auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz: „Also?“
„Wir haben nicht viel gefunden. Das Opfer starb durch Strangulation mit einem Telefonkabel. Es hat sich gewehrt.“
„Das ist ja was Neues.“
„Sehr witzig. Sie wollten, dass es schnell geht, also unterbrechen Sie mich nicht, dann sind wir hier auch schnell durch. Also weiter: Wir haben einen Computer gefunden. Unsere Technik ist noch dabei, ihn zu untersuchen. Er ist aufwändig geschützt. Ansonsten haben wir keinerlei persönliche Gegenstände gefunden. Für einen Mann im Urlaub erstaunlich.“
„Keine Bücher oder so? Nichts?“
„Nein. Ich frage mich, was er den ganzen Abend gemacht hat. Im Hotel gibt es kein Internet. Der PC wird ihm nur begrenzt etwas gebracht haben.“
MacGarney kratzte sich am Kinn. „Fingerabdrücke?“, fragte er.
„Ja, das ist das einzige, was wirklich interessant war.“
MacGarney horchte auf.
„Überall im Zimmer sind nur Fingerabdrücke des Opfers. Normalerweise finden sich auch vom Personal welche wieder. Das sollten Sie überprüfen.“
„Also ist das Aufregende, dass es nichts gibt?“
„Nicht ganz: Wir haben einen einzelnen Abdruck gefunden.“
MacGarney lehnte sich nach vorne: „Einen Abdruck? Vielleicht hat der Mörder den Handschuh zu früh ausgezogen.“
„Das kann sein. Aber das wissen wir nicht. Wir konnten ihn bisher noch keiner Person zuordnen. Wir haben eine Schnellabfrage mit der Datenbank gestartet, aber es gab keinerlei Übereinstimmungen. Jetzt läuft die große Abfrage, aber das kann dauern.“
„Interessant.“ MacGarney lehnte sich wieder zurück. Sein Gegenüber schaute ihn an: „Das war alles.“
MacGarney nickte.
„Sie können jetzt gehen.“
MacGarney verließ den Pub so gegen elf Uhr. Er hatte sich in der Old Town noch zwei Pints gegönnt und ging nun im gemächlichen Tempo die Hauptstraße hoch. Er kannte viele Einwohner, die diese Gegend nicht mehr so mochten. Zu viele Touristen, alles nur noch Kommerz. Das stimmte wohl, aber er war aus einem anderen Grund hier: Das Castle, angestrahlt bei Nacht, war ein so erhabener Anblick! Schon als Kind hatte ihn die Festungsanlage fasziniert und das hatte sich in all den Jahren nicht geändert.
Er erreichte den Platz, der der Burg vorgelagert war. Einzelne Touristen machten Fotos oder schauten links über die Brüstung auf die Straße hinab.
MacGarney schlenderte zur rechten Seite des Platzes. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich an eine Mauer: Rechts lag das Castle, links der Weg in die Old Town. Es war eine milde Nacht.
Er kam oft hierher: Zuhause fiel ihm die Decke auf den Kopf. Seine Frau war vor vier Jahren bei einem Verkehrsunfall verstorben. Seitdem hatte er mehr Zeit, als ihm lieb war. Er konnte Beyl verstehen, der pünktlich nach Hause wollte, um mit seiner Familie Zeit zu verbringen. Das hatte er damals auch getan.
Er griff in seine Jackentasche und fischte ein Notizbuch und einen Stift hervor. Er kniff die Augen zusammen: Das Licht auf dem Platz war nicht sehr hell, aber ausrechend. Dann fing er an zu schreiben.
***
Beyl lag im Bett. Er schaltete sein Handy auf den Flugmodus und legte es zur Seite. Neben ihm lag seine Frau, die bereits eingeschlafen war.
Beyl griff nach seinem eBook-Reader, um noch etwas zu lesen: Die unterhaltsame, leicht verdauliche Geschichte des Polizisten Marius Baga, der in Wien ermittelt.
Beyl und MacGarney trafen fast gleichzeitig im Büro ein.
„Und?“, erkundigte sich Beyl. „Was hat unser Experte aus dem Keller für uns gehabt?“
„Einen Daumenabdruck. Ansonsten waren nur Abdrücke vom Sebstein da.“
MacGarney griff zum Telefon: „Ja. Ich würde gerne mit Mr. MacHorn sprechen... Mein Name ist MacGarney von der Polizei... Ja, danke... Guten Morgen... Ich habe eine Frage: Wie oft macht das Personal bei Ihnen sauber?... Jeden Tag? Interessant... Es gibt bei Mr. Sebstein keinen Fingerabdruck von einer Dame, die dort geputzt hätte... Ja, ich warte... Ja?... Aha... Danke.“ Er legte auf und grinste Beyl an: „Das war ein komischer Kerl. Er hat explizit darum gebeten, dass sein Zimmer nicht betreten oder gereinigt wird.“
„Er hat es nicht putzen lassen oder so?“
„Nein.“
Beyl rümpfte die Nase: „Das ist verdächtig. Interessant. Ich denke, es lohnt sich, mehr über ihn rauszufinden. Was hat er überhaupt beruflich gemacht?“
Sein Partner schüttelte den Kopf: „Das weißt du nicht? Vielleicht solltest du dich mal mehr um deinen Job kümmern.“ Beyl sah ihn verärgert an: „Du weißt es also?“
„Yep.“
„Und?“
„Er hat in einer Bank gearbeitet.“
Beyl zog die Augenbrauen hoch: „Und als was?“
„Keine Ahnung. Ich würde sagen, wir fahren mal hin und fragen nach.“
Beyl schüttelte den Kopf: „Wir können die Stadt nicht verlassen.“
„Müssen wir nicht.“
„Wie meinst du das?“ Beyl war wieder überrascht.
„Naja“, sagte sein Kollege. „Der Gute hat anscheinend vor kurzem seine Wohnung gekündigt, einen Nachsendeantrag zum Hotel gestellt und ist dann dort abgestiegen.“
Beyl verstand nichts mehr: „Moment: Willst du mir sagen, der wohnte in Edinburgh, hat sich aber ein Hotelzimmer genommen und seine Wohnung gekündigt?“
„Ja.“
Beyl schüttelte den Kopf: „Es wird immer seltsamer.“
Die Bank residierte in einem alten, erhaben wirkenden Gebäude. Der Eindruck von Erhabenheit wurde allerdings relativiert, sobald man die Geschäftsräume betrat: Alles war modern, offen und schnell.
Beyl und MacGarney wurden in ein Büro im dritten Stock (von fünf) gelotst, wo sie einem dicken Mann in einem maßgeschneiderten Anzug gegenüber Platz nahmen. Der Mann hatte eine Espressotasse vor sich stehen, die vor dem Hintergrund seiner Fülle noch kleiner wirkte als ihre Artgenossen.
„Sie wollen über Sebstein sprechen“, stellte der Mann fest, der sich als Henry Lamrad vorgestellt hatte - Leiter der Personalabteilung.
„Stimmt, es gibt da einige Fragen, wie Sie sich sicher denken können.“ Beyl setzte sein freundlichstes Lächeln auf. MacGarney auch, aber er wirkte noch immer genervt.
„Kann ich verstehen. War ein guter Mann.“
„Was hat er denn hier gemacht?“, erkundigte sich Beyl.
„Naja. Er war ein Nerd. Ein PC-Freak.“
„Und das bedeutet was?“, fragte MacGarney.
Lamrad schaute ihn abschätzig an: „Das bedeutet, dass er für unser Institut komplexe Finanzprodukte entwickelt hat.“
MacGarney grinste: „Solche Produkte, die uns den Scheiß mit der Bankenkrise beschert haben?“
Lamrads Stirn legte sich in Falten. Er verkehrte nicht in Kreisen, die derart aufmüpfig waren.
„Nein. Er hat seriöse Produkte zusammengestellt und die Berechnungen durchgeführt. Die Nerds sind in unserem Geschäft echte Goldesel. Wenn man einen guten hat, versucht man ihn für immer zu binden.“
Beyl hakte nach: „Und Sebstein war ein guter Goldesel?“
Lamrad lachte: „Oh ja. Er hat großartige Produkte zusammengebastelt, die nur er verstanden hat. Allerdings waren sie alle in Ordnung, das muss ich nochmal dazu sagen. Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht.“
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