„Falls du dich fragen solltest, warum ich wollte, dass wir uns hier treffen“, sagte Jomera und deutete gen Himmel, „so ist das die Antwort. Ich möchte, dass du von nun an jeden Abend hierher kommst und die Sterne untersuchst.“
„Warum?“, fragte er behutsam. Der Weise lächelte geheimnisvoll.
„Hoffentlich um etwas zu entdecken, das ich nicht finden kann. Und sollte es sich nicht zeigen, hast du wenigstens deine Ausdauer beim Begehen der Scalari Sritnuma trainiert.“ Simlon verzog die Mundwinkel und schaute wieder in den Raum. Ihm war etwas schwarz vor Augen. Für einen Moment beobachtete er, wie Jomera mit grübelnder Miene durch die Kuppel spähte. Dann senkte der Alte den Kopf und legte seine langen Finger wieder aneinander.
„Ich denke, damit weißt du alles. Oder zumindest weißt du das, was ich dir sagen konnte. Aber bevor du wieder hinab steigst, möchte ich dir jedoch etwas geben.“ Er ging hinüber zu einem dreibeinigen Holzschemel, auf dem ein längliches, fest verschnürtes Päckchen lag, das von einem Samttuch bedeckt wurde. Mit einem gemurmelten Zauber löste er die Schnur und zog das Tuch beiseite. Simlons Atem stockte.
In Jomeras Hand lag das schönste und anmutigste Schwert, das Simlon jemals gesehen hatte. Die Klinge war so blau wie der Himmel selbst und schimmerte matt. Sie war sehr schmal, schien jedoch so scharf zu sein, als könne sie Dinge allein durch ihre Anwesenheit in Stücke schneiden. Der Griff war silberlegiert und von Rillen eingerahmt, die sich wie eine Spirale auf den Knauf zuspitzten, auf dem ein glänzender Kristall saß. Simlon sog die Luft tief ein, denn er spürte auf eine seltsame Art die bebende Kraft des Schwertes vor ihm.
„Sanaleor“ sagte der Weise leise, „Oder Himmelsblut, wie es in dieser Sprache heißt. Ich möchte, dass du es trägst.“
„Ich?“, fragte Simlon verdutzt, „das…das geht nicht. Ich kann es nicht annehmen.“
„Dieses Schwert ist eines der mächtigsten Schwerter in ganz Nirada. Es hat immer den größten Kriegern gehört, und du wirst bald einer von ihnen sein. Ich hätte das Gefühl, dich um dein Erbe zu betrügen, wenn du es nicht bekämst.“ Er hielt es Simlon hin, doch der griff nicht danach.
„Ich denke nicht, dass ich es führen kann. Ich weiß nicht einmal richtig, wie man kämpft.“
„Sanaleor weiß es. Außerdem hast du dich im Schwertkampf gegen einen Drago-Soldaten behauptet.“ Simlon verzog das Gesicht, aber dann griff er nach dem Schwert, das ihn wie ein Hypnotiseur einzulullen schien. Er umfasste den Griff- er war überraschend warm- und hob das Schwert. Bewundernd schwang er es einige Male. Es sirrte so natürlich durch die Luft, als würde er es seit Jahren tragen.
„Gut“, sagte Jomera feierlich und räusperte sich erneut, „Dies ist eines der fünf Schwerter, die die Ära der Sarpetier überstanden haben. Ihre Schwertschmiedekunst ist unübertroffen", sagte er, und plötzlich blickte er sehr ernst, und in seinem glatten Gesicht zogen sich die Falten zusammen, sodass er plötzlich irgendwie zerbrechlich wirkte.
„Sarpetier?“, fragte Simlon vorsichtig. Irgendetwas an diesem Namen kam ihm bekannt vor, doch er wusste nicht, woher es kam, denn er war sich sicher, ihn noch nie zuvor gehört zu haben. Jomera wischte sich eine seiner langen silbernen Strähnen aus dem Gesicht, sodass er kurz in Schatten gehüllt war.
„Hast du schon einmal von Orafar Normir gehört? “
„Nein. “
Jomera seufzte. „Nun gut, davon mehr ein andermal. Sarpetier ist der Name jenes vergessenen Königsvolkes, das vor dem Fürsten von Dragon über Nirada geherrscht hat“, erklärte er träge. Simlon erinnerte sich. Es gab viele Legenden um diese Zeit, doch keine Greifbaren.
„Wieso sind sie in Vergessenheit geraten? Soweit ich mich erinnere, ist ihre Herrschaft noch nicht allzu lange her“, fragte Simlon. Jomera schnaubte bitter.
„Wieso sollte man sich an etwas erinnern, dass es nicht mehr gibt?“, fragte er und löschte das Feuer einer Kerze, indem er mit der Handfläche sanft darüber fuhr. „Die Erinnerung an sie ist so schnell erloschen, wie diese Flamme. Kennst du das Tote Land?“ Simlon nickte und erinnerte sich, dass man ihm erzählt hatte, irgendwo im Westen von Nirada gäbe es ein ganzes Land, das gänzlich unbewohnt sei.
„Ja.“
„Dies war ihr Reich. Die Sarpetier waren gerechte Herrscher. Trotz ihrer Macht. Und sie waren stark, deutlich mächtiger, als alle anderen Völker Niradas, einschließlich der Zauberkraft der Elfen. Unter ihnen hat Nirada eine Blütezeit erlebt.“
„Aber wie konnte das zu Ende gehen?“, fragte Simlon neugierig.
„Genaues wissen nur die Sterne. Es ist nur bekannt, dass an einem schicksalhaften Tag eine gewaltige Explosion Lif Fibair, ihre Hauptstadt, erschütterte und sämtliches Leben auslöschte, das dort jemals existiert hat. Niemand hat überlebt. Anschließend ist in Nirada der Kampf um die Macht ausgebrochen, eine hässliche, grausame Zeit. Bis der Fürst von Dragon aus dem Nichts die Bildfläche betrat und die Gunst der Stunde nutzte, in der Nirada in Schockstarre zuschaute, wie er es vom einen auf den anderen Tag mit unbändiger Kälte eindeckte.“ Er machte eine erdrückende Pause und ging hinüber zur nächsten Kerze. Ein leichtes Prasseln ließ Simlon aufsehen - dicke weiße Flocken fielen auf die Glaskuppel des Turms und drückten so schwer auf sie, wie Jomeras Worte auf ihn.
„Also…ist der Fürst für den Untergang von Lif Fibair verantwortlich?“
„Es ist nicht ausgeschlossen. Der Fürst ist deutlich mächtiger, als jeder Sarpetier-Herrscher zuvor es gewesen ist. Aber niemand weiß, woher er kommt und wer er ist, nicht einmal, ob er überhaupt menschlicher Natur entspringt. Er ist sehr darauf bedacht, seine Anonymität zu wahren und schützt sich mit starken Schildzaubern davor, dass irgendjemand seine wahre Identität herausfindet. Sogar seine engsten Vertrauten kennen sie nicht. Auf der einen Seite macht ihn das schwer einschätzbar, auf der anderen Seite aber zeigt es auch, dass er etwas zu verbergen hat“, Jomera sprach nun mehr mit sich selbst. „Vielleicht ist das der Schlüssel zum Erfolg. Aber es ist nicht an der Zeit darüber zu philosophieren. Die Explosion wird eigentlich nicht auf ihn zurückgeführt. Es heißt, dass der Herrscher der Sarpetier selbst dafür verantwortlich gewesen sein soll - doch auch das ist nur Mutmaßungen“, schloss er und lächelte traurig, „Wer weiß es schon?“ Simlon schwieg betreten und blickte auf die Kerze hinab, über der Jomera stand. Ihre Flamme hatte zu flackern begonnen, als würde ihr jemand die Lebensenergie entziehen. Er dachte an das alte Volk, das über Nacht aus Niradas Erinnerung verschwunden war. Er konnte nicht glauben, dass es einfach nur ein Zufall war, dass der Fürst so kurz danach die Macht ergriffen hatte. Was steckte wirklich dahinter?
„Und niemand hat überlebt?“, fragte er deshalb.
„Oh, selbstverständlich. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass es irgendwo in Nirada noch welche von ihnen gibt. Doch wie viele es sind oder wo sie sich aufhalten, das wissen nur…“
„…die Sterne“, beendete Simlon den Satz und errötete, als er merkte, dass dies vielleicht unhöflich gewesen war, doch der Weise schmunzelte selbstgefällig.
„Ich bin also schon berechenbar geworden. Du solltest jetzt schlafen gehen. Morgen früh beginnen wir mit deiner Ausbildung. Es wird ein langer Tag.“ Simlon spürte plötzlich, wie die Müdigkeit in seinen Kopf kroch, als wolle sie sich dort einnisten, und auf einmal war es ihm sehr recht, sich zurückziehen zu können, obwohl in seinem Kopf immer noch Fragen umherirrten. Doch eines musste er noch wissen.
„Warum ich?“, fragte Simlon und wieder durchbohrten ihn die azurblauen Augen des Weisen wie ein Eispickel, als würde er selbst nach dem Grund in Simlons Gesicht suchen.
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