„Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“
Simlon biss sich enttäuscht auf die Unterlippe. „Gute Nacht, Weiser!“
„Enneyei, Mringard!“(Schlaf gut), erwiderte der Weise und fuhr endlich mit der Hand über die flackernde Kerze, deren Flamme, als wäre sie dankbar dafür, augenblicklich erlosch.
Kapitel 4 - Der Verbannte
Jamie schlug die Augen auf und verspürte das Gefühl von Panik, das man kurz empfindet, wenn man an einem anderen Ort als erwartet aufwacht und vollkommen orientierungslos ist.
Schnaufend schälte er sich aus dem dünnen Laken und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er lag auf einer Matratze, die wiederum auf einem alten Holzboden lag, der müde aufstöhnte, als Jamie sich aufsetzte. Verwirrt blickte er sich um: Er schien in einer Art Hütte zu sein, denn der Raum, in dem er sich befand, war offenbar das einzige Zimmer. Durch zwei mit Insektenüberresten verklebte Fenster schimmerten sehr schwache Lichtstrahlen, als habe jemand die Scheiben von außen verhangen. Abgesehen von einem kleinen Tisch und einem nach kalter Asche riechenden Kamin war der Raum vollkommen leer und verlassen. Er stand auf und rümpfte die Nase - offenbar war die Hütte lange nicht mehr benutzt worden, denn der Boden war voller Staub, und einige Spinnen webten gemütlich ihre Netze in den Wandecken. Wie war er hierher gelangt?
Die Gedanken an das Geschehene kamen so plötzlich zurück, dass sie ihn unter ihrer Last beinahe zerquetschen. Er sank gegen die Wand und massierte sich die Schläfen, als könne das die massiven Kopfschmerzen verjagen, die er plötzlich verspürte. Die seltsamen Kreaturen kehrten in seinen Kopf zurück. Dann erinnerte er sich an den geheimnisvollen fremden Mann, der ihn gerettet hatte. Hatte er ihn etwa hierher gebracht? Wer war er?
Jamie ging zur Tür hinüber. Er hatte einen Entschluss gefasst. Es war egal, wieso er hier war, wichtig war nur, dass er schleunigst von hier und von der gesamten Situation, in die er immer tiefer hineinzuschlittern drohte, wegkam. Obwohl er darauf brannte, zu erfahren, was zur Hölle hier eigentlich vor sich ging, wusste er auch, dass der Mann, nur weil er ihn gerettet hatte, nicht zwangsläufig sein Freund war. Auch von Tyler hatte er sich Antworten erhofft - und war beinahe mit dem Tod bestraft worden.
Er drückte die Türklinke hinunter und war sich dabei schon fast sicher, dass sie verschlossen sein würde, doch er irrte sich. Sie sprang auf, und Jamie trat mit einem Gefühl von Zufriedenheit hinaus. Ein Gefühl, dass sich sofort in Fassungslosigkeit verwandelte, als er sah, was ihn vor dem Haus erwartete. Eine Mauer aus Bäumen war gut einen Meter vor der Tür aus dem Boden gewachsen und umzingelte die Hütte wie ein Palisadenzaun. Die Stämme standen so dicht beieinander, dass es vollkommen unmöglich war, mehr als nur einen Arm zwischen ihnen hindurch zu schieben. Mit offenem Mund umrundete er die Hütte, wobei er feststellen musste, dass es absolut kein Schlupfloch gab. Die Bäume waren gleichmäßig drei Meter hoch und frei von Ästen, als wolle jemand verhindern, dass er darüber kletterte.
„Ich glaub, ich bin im Wald“, sagte Jamie entgeistert und schüttelte sogleich den Kopf, weil der Spruch so unsäglich bescheuert war. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. Die Bäume hätten niemals zufällig so wachsen können. Probehalber trat er gegen den Stamm, doch er war so fest wie erwartet, und alles was ihm das brachte, war ein schmerzender Fuß. Die grüne Baumkrone schien hämisch auf ihn hinab zu linsen.
Resigniert kehrte er in die Hütte zurück und warf sich auf die Matratze. Seine Situation gefiel ihm nicht, und wenn er ehrlich zu sich war, musste er sich eingestehen, dass er einen immer größeren Respekt vor den Dingen entwickelte, die um ihn herum geschahen und ihn in ihre Mitte zu ziehen schienen. Ihm entglitt die Kontrolle, ein Gefühl mit dem er sich nicht abfinden wollte. Entschlossen schüttelte er den Kopf. Er würde sich nicht unterkriegen lassen, und erst recht würde er nicht darauf warten, dass jemand zurückkam und sonst etwas mit ihm anstellte. Eine Reihe Bäume konnte ihn nicht aufhalten. Er sprang wieder auf, dehnte seine Finger, bis sie knacksten, und schritt hinaus.
Eine halbe Stunde später kam er fluchend wieder hinein. Er pustete gegen seine pulsierenden, von Schwielen überzogenen Finger und keuchte angestrengt. Völlig unmöglich! Einen Moment lang blieb er stehen und dachte nach. Es musste doch einen Weg hinaus geben. Aber Jamie hatte das Gefühl, dass jemand großen Wert darauf legte, ihn zu sehen, bevor sich dieser Weg offenbarte.
In der Hütte wurde es langsam dunkel. Die alten Pendelleuchten, die an der Decke hingen, hatten kurz aufgeflackert, als er den Lichtschalter betätigte, dann aber sofort den Geist aufgegeben und die Hütte den Schatten überlassen, sodass er nun fast nichts mehr sehen konnte.
Er lag auf der Matratze und langweilte sich zu Tode. Wer auch immer ihn hierher gebracht hatte, schien es nicht sonderlich eilig zu haben, und das nervte Jamie gewaltig. In den vergangenen Stunden hatte er noch drei erfolglose Ausbruchversuche gestartet. Er hatte sogar versucht, seine Fähigkeiten zu mobilisieren, doch in seinem Inneren regte sich zu seiner Enttäuschung weniger als in einem Leichenschauhaus, was ihn so sehr verbitterte, dass er schließlich widerwillig einsah, dass er sich wohl gedulden musste.
Ein Knacken ließ ihn aufhorchen. Mit durchgedrücktem Rücken lauschte er angestrengt auf das, was vor der Hütte passierte. Ein Knallen und Peitschen war zu hören, und durch das Fenster fiel plötzlich wieder ein wenig mehr Licht. Jemand war da.
Mit pochendem Herzen glitt er vom Bett und sah, dass die Baumkette vor der Hütte einfach verschwunden war. Nichts deutete mehr darauf hin, dass sie je existiert hatte. Jamie schluckte, als er vor dem Haus Schritte hörte. Vorsichtig schlich er über den knarrenden Boden hinter die Tür und hielt den Atem an. Es war wichtig, dass er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Er hatte nicht vor, es seinem Entführer einfacher zu machen, indem er sich gefügig unterwarf. Er würde agieren.
Ein dumpfes Stapfen war vor der Tür zu hören, dann sprang sie auf. Jamie ließ den langen Holzsplitter aus seinem Ärmel gleiten, den er aus dem Boden herausgelöst hatte, und wog ihn nervös in der Hand. Dem Fremden würde er einen unerwarteten Empfang bereiten.
Doch anstatt einzutreten, hielt die Person auf der Schwelle inne. Jamie wagte es kaum zu atmen. Was ging hinter der Tür vor sich? Dann schließlich machte die Person doch den Schritt ins Innere, und Jamie witterte seine Chance. Den Holzsplitter erhoben, sprang er hervor, bereit zu zustechen, doch eine riesige Hand schloss sich fest wie eine Stahlkette um sein Handgelenk und drehte es so, dass er den Splitter fallen lassen musste. Jamie schrie auf, und sein Schrei übertönte die Worte, die die Gestalt nun mit donnernder Stimme aussprach. Im nächsten Moment wurde Jamie von einer unsichtbaren Kraft gepackt, die ihn mitriss und hart gegen die Wand schleuderte, von der er entkräftet auf die Matratze zurücksank.
„Das nächste Mal“, sagte eine helle Männerstimme reserviert, „überleg dir bitte eine klügere List. Etwas weniger Offensichtliches vielleicht.“ Vor Jamies Augen tanzten Lichter umher, doch nun erkannte er schemenhaft einen Mann, der ihm bereits einen massiven Rücken zugewandt hatte und zum Kamin schritt.
„Hätte ja klappen können“, sagte er, nach wie vor keuchend.
„Dann bist du davon ausgegangen, dass dein Gegner dumm wie Brot und so langsam wie ein altersschwaches Faultier ist, und das ist schon ein Fehler für sich. Unterschätze niemals einen Feind. Anaptirm! (Brenne!)“ Eine Flamme züngelte im Kamin auf und tauchte die Hütte in orangefarbenes Licht. Jamies Rücken schmerzte stark von dem Aufprall, doch er interessierte sich mehr für den fremden Mann, der sich nun auf den Schaukelstuhl fallen ließ und seine Hände über dem Feuer wärmte.
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