„Das heißt, es ist absolut unmöglich, dass ein Mensch zum Gedankenlesen in der Lage ist?“, fragte Simlon neugierig und eilte dem Zentauren hinterher die Treppe hinunter.
„Das Gedankenlesen ist den Toten vorbehalten. Doch das heißt nicht, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt, in jemandes Geist zu schauen.“ Simlon wollte unbedingt mehr darüber erfahren, doch ein plötzlicher Geistesblitz rief eine noch wichtigere Frage in sein Bewusstsein.
„Aber wenn es in Nirada Wesen gibt, die bereits gestorben sind, wieso haben die Geister dann nicht schon längst etwas gegen den Fürsten unternommen? Könntet ihr ihn nicht zur Strecke bringen?“ Erstmals lächelte Rhumpten, und es wirkte sehr zart und kämpferisch zugleich.
„Du gehst von der irrtümlichen Annahme aus, dass Geister unsterblich sind. In Wahrheit sind wir genauso sterblich, wie ihr Lebenden.“
„Wirklich?“, fragte Simlon überrascht, und erneut nickte der Zentaur.
„Der einzige Unterschied ist, dass wir der Zeit überlegen sind. Wir können weder Krankheiten bekommen, noch unglücklich Unfälle erleiden oder uns verletzen. Doch wenn ein anderer den Willen hat, uns zu töten, sind wir genauso verwundbar, als wären wir nie gestorben. Und der erneute Tod hätte für uns weitaus schwerwiegendere Folgen als für normal Sterbliche. Warum glaubst du, entscheiden sich nicht mehr Lebewesen für ein Leben als Geist?“ In diesem Moment flog ein Geist mit drei Schwänzen an ihnen vorbei und berührte Simlons Arm. Es war bitterkalt und doch lebendig.
„Wieso?“, fragte Simlon vorsichtig und rieb immer noch mit der Hand über die Stelle, an der der Geist ihn gestreift hatte, doch es hörte nicht auf zu kribbeln. Er fragte sich schon, ob er zu weit gegangen war, doch nach einer kurzen Weile sagte Rhumpten: „Weil ein Toter, der sich entscheidet, in die Welt der Lebenden zurückzukehren, durch diese Entscheidung seinen Platz im Jenseits verspielt. Wenn er noch einmal stirbt, muss er für immer als umher irrende Seele zu einem Teil der Sterne werden, und wer weiß schon, was das bedeutet. Es gibt Winkel in diesen Dimensionen, von denen keiner nur den blassesten Schimmer hat.“
„Aber…verzeih mir, ist das denn so schlimm?“ Rhumpten drehte den Kopf zu ihm und schaute ihn lange an.
„Menschen hassen das Unbekannte, und so geht es auch uns. Es liegt in unserer Natur, uns vor dem zu fürchten, was wir nicht kennen.“
Sie waren an einer Sackgasse angelangt, und eine massive Steinmauer versperrte ihnen den Weg. Simlon fiel erst jetzt auf, dass sie vollkommen allein waren, und eine drückende Stille sie begleitete. Er wollte bereits umdrehen, doch Rhumpten hielt ihn zurück. „Sieh dir die Wand genauer an, Mringard“, bat er ihn. Simlon griff eine der Fackeln von der Wand, um die düsteren Schattierungen besser sehen zu können. Mit zusammengekniffenen Augen stellte er fest, dass es sich um ein Wandgemälde handelte. Angestrengt betrachtete er die Zeichnungen und erkannte in der Reihe von links nach rechts einige schwarze Strichmännchen, daneben die undeutliche Abbildung eines Buches und noch weiter rechts einen Stern, der im Gegensatz zu allen anderen Zeichnungen mit blauen, nicht schwarzen, Strichen gemalt worden war. Rechts von ihm waren wieder einige Strichmännchen aufgemalt, die sich von dem Stern weg zu bewegen schienen.
„Was ist das?“, fragte Simlon konzentriert und starrte mit leicht geöffnetem Mund auf die Abbildungen. Irgendwie, er wusste nicht, weshalb, hatte er das Gefühl, dass diese Zeichnung wichtig war.
„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Rhumpten, und Simlon konnte nicht einordnen, ob er enttäuscht klang. „Selbst die ältesten und weisesten Geister wissen keine Lösung auf dieses Rätsel. Und Jomera scheint zwar mehr zu sehen als wir, aber ganz verstehen kann er es auch nicht. Ich hatte gehofft, du könntest uns weiterhelfen.“ Simlon betrachtete die Zeichnung erneut und versuchte, sie durch die Intensität seines Starrens zu zwingen, ihr Geheimnis preiszugeben, doch nichts geschah.
„Es tut mir leid“, sagte er leise und zog die Fackel zurück. Nun waren nur noch die Umrisse des blauen Sterns zu erkennen, als wollten sie gesehen werden und sich doch verstecken.
„Wie ich sagte“, summte Rhumpten, „es gibt Dinge, von denen man nie Kenntnis haben wird."
Der Abend war angebrochen, als es an der Tür klopfte und Rhumpten in Simlons Kammer trat.
„Er erwartet Euch nun, Mringard“, sagte er. Simlon nickte stumm und kratzte sich unwillkürlich am linken Unterarm, was er immer tat, wenn er nervös wurde. Er konnte es kaum erwarten, Jomera zu treffen.
Er folgte Rhumpten, und sie betraten den Fensterlosen Saal, der in das gewohnt fahle Licht der Kronleuchter getaucht war.
„Wo treffe ich ihn? Nicht im Fensterlosen Saal?“, fragte Simlon verdutzt mit Blick auf den leeren Holztisch, denn er war eigentlich davon ausgegangen, dass der Weise ihn hier erwarten würde. Rhumpten schnaubte belustigt.
„Ich denke, der Weise hat genug Vertrauen in dich, dass er davon ausgeht, dass du den Weg hierher auch alleine hättest finden können.“ Simlon schmunzelte unsicher.
„Das stimmt wohl“, entgegnete er. „Aber wohin gehen wir dann?“
„Du wirst es gleich sehen.“
Er führte Simlon tief in die Eingeweide der Burg. Ab und zu huschten Geister an ihnen vorbei, doch sie schienen sich nicht besonders für sie zu interessieren. Nachdem sie eine gefühlte Viertelstunde durch das Labyrinth aus Gängen gestapft waren, blieb Rhumpten, der die ganze Zeit vor ihm gelaufen war, stehen und trat zur Seite, sodass Simlons Blick auf eine dünne, elfenbeinfarbene Wendeltreppe fiel. In scheinbar endlos dünnen Spiralen kringelte sie sich nach oben und im verschwand im Schatten der hohen Decke in einem dunklen Loch.
„Scalari Sritnuma, die Sternentreppe“, erklärte Rhumpten auf Simlons fragenden Blick, „der Weise erwartet dich an ihrer Spitze.“
„Wohin führt sie?“
„In die Sternenwarte“, sagte Rhumpten monoton.
„Es gibt eine Sternenwarte?“, fragte Simlon verblüfft.
„Sonst würde die Scalari Sritnuma nicht in einer münden“, erwiderte der Zentaur trocken, als belustige ihn Simlons Naivität. Simlon verstand nicht, warum Rhumpten plötzlich so sarkastisch war. „Und nun solltest du gehen. Teile dir deine Kraft ein, die Treppe ist steil und ewig lang.“ Mit diesen Worten kehrte er um und war im nächsten Moment verschwunden. Leicht verwirrt begann Simlon mit dem Aufstieg. Seine Schritte klangen dumpf und pochend auf dem nicht erkennbaren Material, aus dem die Treppe bestand. In das Geländer waren überall die unterschiedlichsten Sternformen geschnitzt und hoben sich sanft und glatt von ihrem Untergrund ab. Machart und Zustand der Treppe ließen keinerlei Schlüsse auf ihr Alter zu.
Tatsächlich war der Aufstieg so beschwerlich, wie Rhumpten ihn in Aussicht gestellt hatte. Nach zweihundertdreiundvierzig Stufen hatte Simlon müde aufgehört zu zählen. Er hatte nicht gewusst, dass die Burg einen so hohen Turm hatte, der wohl weit über den Rest der Burg hinausragen musste, denn selbst als Simlon den Durchgang in der Decke erreichte, fiel nur ein münzengroßes Licht von oben auf ihn herab und verriet ihm, dass die Spitze noch weit entfernt war. Aber schließlich wurde das Licht immer größer, und Simlon fiel ächzend auf den Boden eines kreisrunden, engen Raums mit glattem Steinboden. „Da bist du ja“, vernahm er eine vertraute Stimme und blickte auf. Jomera stand vor einer Reihe von über und über mit Pergamenten, Karten und seltsamen Objekten voll gestopften Regalen. Hinter ihm saß ein Koloss von einem Teleskop, dessen gewaltiges Fernrohr durch eine Glaskuppel an der Decke auf die leuchtenden Sterne fixiert war, als sei es der Aufseher des Himmels. Simlon bemerkte, dass auf dem Boden des Raumes mit weißer Farbe etwas gezeichnet war, und er erkannte, dass es etwas wie eine detaillierte Sternenkarte sein musste.
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