Die Gestalt kam näher, und dann hörte er ein Zischen… Das Wesen kreischte auf, und ein Geräusch wie eine Mischung aus einem stotternden Motor und einem Fingernagel, der über eine Tafel gezogen wird, penetrierte sein Trommelfell. Ein Pfeil steckte in der Brust des Monsters, und schwarzes Blut lief an ihm hinab. Die Gestalt machte einen weiteren Schritt auf Jamie zu, aber nun sprang ein Mann hinter Jamie auf die Straße und stellte sich zwischen ihn und die Kreatur, die wütend fauchend auf ihn losging. Der Mann hob eine schwere Armbrust, und ehe die Kreatur sich auf ihn stürzen konnte, schoss er ihr einen weiteren Pfeil mitten in das von der Kapuze verhüllte Gesicht. Wie das andere Monster zuvor, begann auch dieses in sich zusammenzufallen wie bröckelnder Trockenlehm. Asche rieselte auf die Straße. Stille kehrte ein.
Jamie blickte den Mann an, der mit dem Rücken zu ihm stand. Er wirkte wie ein Koloss, beinahe so groß wie die Kreatur und ungefähr doppelt so breit wie ein normaler Mann. Nun drehte er den Kopf, und kniete sich neben Jamie, der vor Benebelung nur verschwommen ein rundes Gesicht über sich auf flimmern sah.
„Wer…wer sind Sie?“, fragte Jamie, doch der Mann winkte ab.
„Sprich jetzt nicht, Mringard“ (Auserwählter), sagte er mit warmer Stimme und hob die Hand. „Enneyei tair“ (Schlafe ein).
Jamie fielen die Augen zu.
Kapitel 3 - Von Sternen und Vergangenem-
Wie ein gespenstisches Trauerlied heulten die Böen durch die leeren Flure der Burg. In den vergangenen zwei Tagen hatte es ununterbrochen geschneit, und die Welt um sie herum war von einer weißen Decke abgeschnitten.
Simlon saß auf seinem Bett, und während sein Atem wieder ruhiger wurde, beobachtete er durch das Fenster seiner Kammer, wie der Himmel sich langsam violett verfärbte und die zart rötlichen Lichtstrahlen den Morgen ankündigten. Ein schlechter Traum hatte ihn geweckt. Darin war er Teil einer Schlacht gewesen, so brutal und gnadenlos wie in alten Legenden, vielleicht sogar noch erbitterter. An seiner Seite hatte ein anderer Junge gestanden, doch sie waren hoffnungslos unterlegen gewesen, und schließlich war eine riesige, düstere Gestalt aufgetaucht und hatte die Welt in Schatten gehüllt. Simlon versuchte, sich an das Gesicht des Jungen zu erinnern, doch es war bereits so verschwommen wie ein mit Wasser übergossenes Aquarellgemälde. Seine Hand umklammerte fest das weiche Fell, das ihm als Decke diente, und er schluckte schwer. Dann stand er auf. Während er sich im Spiegel betrachtete, wanderten die letzten Tage durch seinen Kopf, und irgendwie kam es ihm vor, als sei er in diesen Tagen um Jahre gealtert.
„Simlon?“, hatte Tringard zornig ausgerufen.
„Simlon“, entgegnete der Weise und nickte, „entweder er wird Nirada retten, oder keiner wird es tun!“ Es lag eine unnatürliche Selbstverständlichkeit in diesen Worten, die Simlon verwirrte.
„Aber, Jomera, verzeiht“, druckste Kigror vor sich hin und schielte unauffällig in Simlons Richtung, als sei es ihm unangenehm, vor ihm zu sprechen. „Er ist doch nur…Er ist nicht…“
„Ich habe keine Zweifel daran, dass Simlon der Aufgabe gewachsen sein wird.“ In Jomeras Stimme lag etwas Abschließendes, doch Tringard wollte es nicht wahrhaben.
„Er entstammt keiner Königsfamilie“, presste er wütend hervor, „sein Blut ist nicht das eines Helden.“ Simlon verstand nicht, warum Tringard so vehement dagegen war, dass nicht ihn die Aufgaben des Auserwählten erwarteten. Er an seiner Stelle wäre erleichtert gewesen, denn er sah in der Verkündung keine Ehre…viel mehr war es ein Todesurteil.
„Herkunft und Stand geben keinen Ausschluss darüber, wer einen Helden darstellen soll“, entkräftete Jomera ihn schlicht, „In einem Kampf kann man sich nur darauf verlassen, wer man ist. Und Simlon ist der Auserwählte. Deshalb muss ich euch bitten, nun wieder zu gehen. Ich muss mit Simlon alleine sein.“
Kigror schnaufte. „Ich verstehe nicht, wie Ihr Euch dann sicher sein könnt, dass die Prophezeiung von ihm redet. Guckt ihn Euch doch an, Weiser. Er ist klein, beinahe mickrig, zurückhaltend und unentschlossen. Er ist jemand, der Befehle befolgt, nicht jemand, der sie erteilt. Er ist nicht zum Anführer geboren worden.“
„Du magst mit all dem recht haben, Kigror“, antwortete Jomera, aber sein Ton verriet, dass er weit mehr wusste, als Kigror, „aber man sollte einen Menschen nie an den Makeln messen mit denen er geboren wird, sondern daran, wie er sich entschließt, mit ihnen umzugehen.“
Nachdem er die Gruppe hinaus begleitet hatte, kehrte der Weise zurück an den Holztisch, an dem Simlon nach wie vor saß und ins Nichts blickte. Er setzte sich zu ihm und musterte ihn schweigend.
„Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir“, sagte er schließlich und erhob sich, „du hast dich gut gehalten, und damit meine ich nicht nur deinen Kampf mit dem Drago-Soldaten.“ Simlon nickte nur schwach. In der Tat fühlte er sich etwas schummrig.
„Ich denke, es ist das Beste, wenn du dich jetzt eine Weile ausruhst. Danach können wir immer noch über alles sprechen.“ Eigentlich brannte Simlon darauf, diese Antworten schon jetzt zu bekommen, doch alles an ihm war zu ausgelaugt, um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können.
„Ja“, sagte er kratzig und stand auf. Er spürte den Blick des Alten in seinem Rücken, als er zurück in die Kammer ging, die man ihm zugewiesen hatte.
„Simlon“, hörte er Jomera sagen, und als er sich umwandte, sah er, dass der Weise milde lächelte, „du bist nicht so allein, wie du vielleicht denkst!“
Auch heute, am Tag danach, dachte er noch über diesen Satz des Weisen nach. Er war tief gefallen, in ein Meer aus tosender Schwärze, und er wusste beim besten Willen nicht, wer ihm nun zur Seite stehen würde.
Simlon sah in den Spiegel. Er sollte dafür verantwortlich sein, wie die Zukunft Niradas aussehen würde? Der Gedanke war geradezu lächerlich. Er war nur ein gewöhnlicher Junge, vielleicht begabt, aber nicht so sehr, dass es auffällig gewesen wäre. Wie sollte jemand wie er den unermesslichen Kräften des Fürsten standhalten können?
Simlon verließ die Kammer und betrat den Fensterlosen Saal, der im schwachen Schein einiger Kerzen lag. Bisher hatte er noch nichts anderes vom Schloss gesehen, doch seine Neugier wuchs. Was es hier wohl zu erkunden gab?
Durch die Tür, durch die Jomera gestern gegangen war, trat er in einen breiten, in schummriges Licht getauchten Korridor, mit hoch an den Wänden eingelassenen Rundbogenfenstern. Mit hallenden Schritten lief er durch den Korridor und bog in einen weiteren ab. Die gewölbte Decke wurde von dünnen, spitzen Säulen gestützt, die beinahe so unförmig aussahen wie geschmolzene Wachstummel, und karminrote Wandteppiche flankierten den Gang. Er vernahm ein kurzes Wirbeln in der Luft, und dann war ein `Plop´ zu hören, doch als er sich umsah, konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen. Nun erreichte er eine Art Empfangshalle, von der zwei große Holztreppen in ein weiteres Stockwerk führten, und nach kurzem Zögern stieg er sie hinauf. Oben angekommen blickte er in einen weiteren Korridor, der fast genauso aussah wie die vorigen, nur dass hier von einem quadratischen Panoramafenster am Ende des Ganges deutlich mehr Licht einfiel. Beeindruckt ging er darauf zu.
„Waah…!“ Etwas schlang sich um seine Beine und hielt sich an ihm fest. Verzweifelt schrie er auf und versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, doch da war er schon wie ein Kartoffelsack nach vorne gekippt. Was immer ihn festhielt, ließ ihn nicht los. Dann hörte er ein sehr hohes Kichern und erneut ertönte dasselbe `Plop´ wie vorhin.
„Gefangen“, rief eine piepsige Stimme, offenbar hoch amüsiert, und Simlon glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Vor ihm schwebte eine Art durchsichtiger Flummi in der Luft. Das Wesen war in etwa so groß wie eine Melone und hatte einen kugelrunden Körper, der so milchig war, dass man durch ihn hindurch die Wand erkennen konnte. Zwei große Kulleraugen hüpften munter im Kreis hin und her und ein kleiner, unproportioniert Mund komplettierte das skurrile Gesicht.
Читать дальше