Simlon verbeugte sich tief. „Hallo, Weiser!“ Jomera, in einen blassroten Umhang gehüllt, schritt auf das Teleskop zu und fuhr mit dem Zeigefinger liebevoll über die spiegelglatte Oberfläche.
„Wie war dein Tag heute?“, fragte der Weise.
„Gut“, sagte Simlon zögerlich, denn er wusste nicht, was für eine Antwort der Weise von ihm erwartete.
„Tatsächlich?“, sagte Jomera träumerisch und blickte von dem Teleskop auf „Das kann ich mir kaum vorstellen.“
„Wieso sollte es nicht so gewesen sein, Weiser?“
„Wegen allem, Simlon. In deinem Kopf muss ein Krieg ausgebrochen sein zwischen den Fragen, die du hast, und deiner Fantasie, die sie dir beantwortet. Du hast erfahren, dass deine Welt sich nun auf dich verlässt, und nur ein Narr wie Tringard würde nicht erkennen, welchen Preis dieses „Besonders-Sein“ hat.“ Jomeras Augen funkelten. Simlon zögerte, aus Angst, etwas Falsches zu sagen.
„Aber ist es nicht eine Ehre, der Auserwählte zu sein?“
„Spürst du ein Gefühl der Ehre, Simlon?“, fragte der Weise mit hoch gezogener Braue. Simlon antwortete nicht. „Natürlich nicht. Deine Angst übersteigt dein Ehrgefühl bei Weitem. Wenn es anders wäre, wärst du nicht bei Verstand.“ Er wartete, bis Simlon nickte und blickte plötzlich ernst. „Dieses Verhalten zeugt weder von Schwäche, noch von Feigheit. Es beweist Vernunft. Man ist zuerst man selbst und nicht der, den Andere in einem zu sehen hoffen.“ Aus irgendeinem Grund war Simlon unglaublich dankbar für diese Worte, denn sie nahmen ihm das Schamgefühl ein wenig, das daher rührte, dass er sich wünschte, niemals auf der Burg erschienen zu sein.
„Es ist also in Ordnung, Angst zu haben?“, fragte er und Jomera sah ihn durchdringend an.
„Sie nicht zu haben, wäre fatal. Angst hindert uns daran, den Weg vor uns zu unterschätzen. Jeder gute Krieger weiß, wovor er Angst hat. Seine Stärke liegt darin, sie zu kennen und ihr zu trotzen. Falls es dich beruhig; auch der Fürst verspürt Angst: Vor dir.“ Bei diesen Worten begann Simlon zu lachen, so absurd klang es, dass der mächtige Fürst von Dragon sich vor ihm, dem kleinen zurückhaltenden Bauernjungen, fürchten sollte - doch Jomera blickte ihn ernst an, und eine tiefe Falte lag auf seiner runzligen Stirn.
„Du fragst dich bestimmt, warum du heute hier oben auf der Sternwarte mit mir bist“, fuhr er unbeirrt fort, „Ich möchte dir erklären, was es heißt, der `Auserwählte´ zu sein…wenn es nur so einfach wäre.“ Er kam auf Simlon zu, und erst jetzt merkte der Junge, wie groß der Weise eigentlich war. Die blauen Augen des Alten blitzten.
„Es ist faszinierend, welche Windung des Schicksals dich und mich hierher gebracht hat. Dich dazu auserkoren hat, dein Leben zu riskieren, um das anderer zu retten. Ich kann dir leider nur sagen, dass es so ist, und dass du lernen musst, damit umzugehen. Es mag dir vielleicht nicht gefallen, aber es wird der Tag kommen, an dem du dich dem Fürsten stellen wirst, um dabei entweder zu triumphieren oder zu sterben.“ Die Selbstverständlichkeit in seiner Stimme ließ Simlon frösteln. Die beiden musterten sich kurz und innig.
„Das weiß ich“, sagte Simlon schließlich mit schwacher Stimme. „Vorausgesetzt, es ist unmöglich, dass Ihr Euch irrt?“ Der Weise seufzte und nickte.
„In diesem Fall bin ich mir sicher.“
„Die Prophezeiung könnte nicht...?“
„Nein. Ich habe alles überprüft, und ich weiß, dass sie sich auf dich bezieht. Es liegt dir im Blut.“ Simlon verstand zwar nicht genau, was er damit meinte, aber es war auch zweitrangig. Dies war seine letzte Aussicht gewesen, dass es sich um ein Missverständnis handeln könnte und er wieder nach Hause zurückkehren konnte. Komischerweise enttäuschte es ihn nicht, sondern es half ihm ein wenig, seine Situation zu akzeptieren. Er konnte sie nicht ändern, entweder er fand sich jetzt damit ab oder nie.
„Was gibt es nun zu tun?“, fragte er. Jomera räusperte sich und drehte ihm erneut den Rücken zu.
„Zunächst“, sagte er schließlich, „wirst du dich einer Ausbildung unterziehen müssen. Deine Kräfte sind außergewöhnlich, aber sie müssen noch geschult werden.“
„Aber das stimmt nicht. Ich habe keine außergewöhnlichen Kräfte“, warf Simlon ein.
„Du wirst es sehen“, entgegnete Jomera knapp, „Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, würde ich gerne dein Lehrer sein. Ich habe mit Rhumpten gesprochen, und wie ich hörte, hat er dir bereits erklärt, dass er dich die Verteidigung gegen Angriffe auf deine Gedanken lehren wird. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit als wir haben, aber ich bin mir sicher, dass du schnell Fortschritte machen wirst, auch wenn es vieles geben wird, das nur du dir selbst beibringen können wirst und musst.“
„Wenig Zeit?“, fragte Simlon überrascht und enttäuscht, denn er hatte wenigstens gehofft, sich ein wenig mit dem Gedanken, der Auserwählte sein zu sollen, anfreunden zu können, doch Jomera wirkte plötzlich düsterer als zuvor.
„Denkst du, es war Zufall, dass ihr auf dem Weg zu meiner Burg angegriffen wurdet? Der Fürst sendet seine Drago-Soldaten nie ohne Grund aus. Ich glaube, dass er genau weiß, was vor sich geht.“
„Dann weiß der Fürst auch von der Prophezeiung?“, fragte Simlon mit flatternder Stimme. In seinem Bauch begann ein Unwohlsein wie ein Pendel hin und her zu schwingen.
„Selbstverständlich. Und er wird die Zeichen zu deuten wissen. Ich fürchte sogar, dass er bereits einen Weg in die andere Dimension gefunden hat, um sich des anderen Auserwählten anzunehmen.“
„Aber dann müssen wir ihm helfen“, rief Simlon, ohne auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung zu haben, wie er das anstellen sollte, doch Jomeras entspannter Blick ließ ihn stutzen.
„Mach dir darüber zunächst keine Gedanken. Ein Freund von mir kümmert sich um ihn und sollte in der Lage sein, ihn zu schützen, bis du den Weg durch das Tor gehen kannst. Auch deshalb musst du hart trainieren. Die Tore haben ihre eigene Magie, und nur die fähigsten Krieger sind in der Lage, ihrer Macht zu trotzen. Gedulde dich“, sagte er mit leicht erhobener Stimme, als Simlon den Mund öffnete. „Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um in Unruhe zu verfallen.“ Es klang wie eine Rüge, und sofort stellten sich Simlons Nackenhaare auf.
„Verzeiht, Weiser“, sagte er eingeschüchtert, doch der Weise winkte ab und schritt hinüber zu dem Teleskop, durch das er in die Sterne blickte.
„Weißt du, Simlon, es bringt nichts, es nicht auszusprechen. Du hast einen unglaublich schweren Weg vor dir. Du musst dein zu Hause verlassen, womöglich für immer. Der Krieg wird dir vieles nehmen, und was ist die Erfolgsaussicht? So ungewiss wie der fliegende Wechsel der Jahreszeiten. Aber du wirst niemals alleine sein!“ Da war es schon wieder. Was meinte der Weise damit? „Komm her!“ Simlon stellte sich neben ihn. „Schau hier durch“, sagte der Weise und wich von dem gewaltigen Teleskop zurück, um Simlon Platz zu machen. Mit zusammengekniffenen Augen bückte er sich ein wenig und sah durch das Fernrohr, durch das die unglaubliche Vielfalt an Sternen beinahe so wirkte, als könne er sie mit der Hand greifen. Es war wunderschön.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, sagte Jomera verträumt, „Die Sterne bergen Geheimnisse, die die Erde nicht kennt. Jenseits von ihnen liegt eine andere Dimension, und ich frage mich, ob man von dort ihre Rückseiten sieht. Es ist faszinierend. Sie sind unerschütterlich und strahlen auch, wenn alles rund herum dunkel ist. Als würden sie eine Macht besitzen, die verhindert, dass die Welt erlischt.“ Simlon schwieg und lauschte den Worten des Alten, als wären sie ein Schlaflied. Ein weiteres Mal starrte er hinauf und versuchte etwas zu erkennen, doch die Sterne schienen ihr Geheimnis verbergen zu wollen.
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