„Wer bist du?“, fragte Jamie herausfordernd, „und was hast du mit mir vor?“
„Mein Name ist Gwin. Gwin, der Verbannte“, sagte er schlicht und drehte sich erstmals zu Jamie um, sodass er ihm ins Gesicht sehen konnte. Jamie erkannte ihn sofort. Es war der Mann, der ihn vor den Kreaturen gerettet hatte. Damals hatte Jamie nur seine Umrisse erkennen können, doch nun wurde ihm klar, dass er ihn sich ganz anders vorgestellt hatte. Sein Gesicht bildete einen brutalen Kontrast zum Rest seines Körpers, weil es weich, kindlich und eindrucksvoll gutmütig wirkte. Dunkles Zottelhaar kräuselte sich über die platte Stirn und präsentierte sich beinahe als Vorhang für zwei stille, konturenscharfe olivgrüne Augen. Ohne es zu wollen, flößte der Mann ihm ein grenzenloses Vertrauen ein, als er mit einem schmallippigen, breiten Lächeln zu Jamie hinab blickte. Sei vorsichtig, ermahnte sich Jamie, denn schließlich hatte der Mann ihn eben angegriffen. Widerwillig musste er sich jedoch eingestehen, dass allein Gwins Erscheinung ihn beeindruckte. Er war deutlich über zwei Meter groß und von Kopf bis Fuß muskelbepackt. Seine Haut war ledrig, aber beinahe leuchtend hell, und das mittellange Haar stand ungebändigt vom Kopf ab.
„Na gut, Gwin. Kannst du mich bitte nach Hause bringen, meine Eltern machen sich bestimmt bereits Sorgen um mich“, sagte er bewusst unfreundlich, doch Gwin sah ihn nur an, und er schien etwas traurig zu sein.
„Nach Hause wirst du eine lange Weile nicht mehr gehen. Um deine Eltern mach dir keine Sorgen…sie erinnern sich nicht an dich.“
„Was?“, sagte Jamie halb lachend, halb verunsichert, „was erzählst du da für einen Unsinn? Was hast du mit mir vor?“, fragte er erneut, diesmal noch eindringlicher. Gwin seufzte schwermütig und kam näher, doch er sagte nichts. In diesem Moment fiel Jamie auch die seltsame Kleidung des Mannes auf. Er trug einen dicken, grauen Strickpullover aus einem fremden Fell, das ein wenig wie Wolle aussah, nur drahtiger, und eine schwarze Hose aus Stoff, deren Enden in zwei schwere Stiefel gestopft waren. So würde er nicht mal an Halloween rausgehen. Laut sagte er das jedoch nicht, denn an einem Lederriemen, den Gwin um die Taille gebunden hatte, baumelte eine Armbrust. Gwin schien zu merken, dass Jamie ihn musterte, denn er schürzte die Lippen.
„Du siehst verwundert aus“, sagte der Mann ruhig. Jamie schnaubte verbittert. Mit einem Mal war alle seine Wut verflogen, und er zweifelte einfach nur an seinem Verstand.
„Klar, wie denn auch nicht? Ich meine, mein Tag kann nicht noch schlechter laufen. Erst werde ich von zwei Wesen verfolgt, von denen ich nur hoffen kann, dass ich sie mir nur eingebildet habe, und dann erwache ich gefangen in irgendeiner Hütte, die von einer Baumwand umschlossen wird - und dann begegne ich dir…“ Er beendete den Satz nicht, doch er wusste, dass er das nicht musste. „Ich will einfach nur wissen, was mit mir geschieht!“ Seine Stimme klang beinahe flehend. Der große Mann blickte ihn einfühlsam an, rückte näher zur Matratze und setzte sich unmittelbar vor den Jungen, der es trotz allem noch schaffte, den Blick stur und sicher zu erwidern.
„Ich weiß, was in dir vor sich geht, Jamie“, sagte er mit seiner rollend warmen Stimme und fuhr sich durch sein dichtes Haargestrüpp. „Ich will dir helfen. Zunächst aber möchte ich dich bitten, nicht mehr das Wort ´gefangen´ zu verwenden. Es steht dir frei zu gehen, auch wenn du nicht wegrennen kannst.“ Er ließ im Raum stehen, was er damit meinte, und fuhr fort: „Ich verlange nur, dass du dir anhörst, was ich dir zu sagen habe. Und zwar alles.“ Er sagte es nicht laut, aber befehlsgewohnt, sodass Jamies Resistenz kurzzeitig brach. Ihm wurde klar, dass Gwin seinen Willen für gewöhnlich durchzusetzen wusste, und für einen Moment gab ihm das ein Gefühl der Geborgenheit.
„All diese Dinge, die heute passiert sind“, begann Gwin, und Jamie spürte, dass ein flaues Gefühl sich in seiner Magengegend ausbreitete, „passieren aus einem Grund. Ich kann dich beruhigen, Jamie, du bist nicht verrückt. Und du hast dir nichts davon eingebildet. Was ich sagen will, ist, dass deine Fähigkeiten, genauso wie diese Kreaturen, real sind, wenn auch nicht von dieser Welt. Sie entspringen einer anderen Dimension, Jamie. Einer Welt, die parallel zu dieser hier existiert. Sie heißt Nirada und befindet sich derzeit in einer schweren Notlage, aus der du…“
„Das meinst du nicht ernst, oder?“, unterbrach ihn Jamie grinsend, „du verarschst mich doch!“
„Nein, ich sage die Wahrheit.“ Jamie starrte ihn immer noch mit offenem Mund an, als habe Gwin eine aufdringliche Warze im Gesicht. „Ich kann verstehen, dass…“ Aber Jamie war aufgesprungen und auf dem Weg zur Tür.
„Bleib sitzen“, sagte Gwin scharf, aber Jamie beachtete ihn nicht. „Ich sagte, bleib sitzen!“
„Sorry, aber das kannst du vergessen!“, entgegnete Jamie aufgebracht lachend. Die Tür knallte vor ihm ins Schloss und ließ sich nicht öffnen. „Du hast gesagt, dass ich gehen darf“, zischte Jamie, nun wütend.
„Sobald ich dir alles erklärt habe, ja“, entgegnete Gwin, nun wieder ruhig.
„Aber ich bitte dich“, rief Jamie widerspenstig und warf die Arme in die Luft. Eine Welle der Enttäuschung, die er sich selbst nicht erklären konnte, überflutete ihn und ließ seine Stimme schwach werden. „So einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört. Ich weiß nicht, ob du das witzig findest oder irgendeiner Sekte angehörst, aber das ist doch nicht normal!“
Gwin sprang so plötzlich auf, dass Jamie erschrocken zurückwich.
„Aber du bist normal?“, fragte der große Mann plötzlich intensiv und kam zu ihm hinüber, „sag mir, Jamie, gab es einen Tag in den letzten Jahren, an dem du von dir selbst gedacht hast, du seiest normal?“
„Ich…“
„Du kannst mich belügen, aber niemals dich selbst. Die Wahrheit wird dich nicht loslassen. Du scheinst nicht dumm zu sein. Ich weiß, dass du dich hinterfragst und wissen möchtest, was es ist, dass dich von den anderen unterscheidet, ich habe das auch getan!“
„Und was ist das?“, fragte Jamie herausfordernd, doch immer noch im Rückwärtsgang. Gwin blieb kurz vor ihm stehen, und als Jamie dachte, er wollte ihn anschreien, sackten seine Schultern ein, und er sagte ganz ruhig: „Magie. Jamie, es ist Magie. Und die Tatsache, dass dein Schicksal nicht dieser Welt bestimmt ist, sondern einer anderen.“ Die Zeit schien für einen Moment anzuhalten, in dem das Wort Magie wie auf einem Bildschirmschoner von einer Ecke von Jamies Bewusstsein in die andere gestoßen wurde.
„Ma…Magie?“, fragte Jamie entgeistert und blickte in Gwins Gesicht, in dem auf so erschreckende Weise Aufrichtigkeit geschrieben stand. In der Hütte war es nun vollkommen still. Dann nickte Gwin.
„Ich weiß, dass es unglaublich klingt. Aber ich habe bewiesen, dass in mir genau dieselbe Kraft wohnt, wie in dir, das sollte reichen, um zu erkennen, dass ich nicht scherze. Und ich bitte dich, mir weiterhin zuzuhören.“ Ohne zu wissen, was er tat, glitt Jamie zurück auf die Matratze.
„Aber das klingt so falsch“, sagte er sich sträubend. Gwin lächelte sanft.
„Oh ja, das tut es. Als ich das erste Mal davon hörte, dass es außer meiner Heimat noch eine andere Dimension gibt, habe ich ähnlich reagiert, wie du.“
„Heißt das, du bist..“
„Ja“, sagte Gwin knapp, „ich stamme aus Nirada. Aus Smetland, um genau zu sein, einem kleinen Land im Südosten Gwest Nordias.“ Jamie verstand kein Wort von dem, was er sagte, und befahl sich immer noch, nicht auf eine solche Lüge hineinzufallen, doch sein Herz wusste es besser: Im Grunde hatte er von der ersten Sekunde an nicht den geringsten Zweifel an Gwins Geschichte gehabt.
„Also bist du ein Zeitreisender oder so was?“, fragte er langsam. Gwin lachte und es war ein dumpfes Grollen, als würde eine Felskugel über Kies rollen.
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