„Nein, eher ein Dimensionsreisender“, gluckste er tief, „und das auch nicht unbedingt freiwillig.“
„Wie meinst du das?“, fragte Jamie, doch der Hüne winkte ab.
„Lass uns dieses Thema ansprechen, wenn es sonst nichts mehr zu bereden gibt.“
„Okay“, befand Jamie und kratzte sich an der Nase, „und es ist wirklich…Magie?“
Abermals nickte Gwin. „Ja. Aber sie ist in Nirada bei Weitem nicht so selten, wie sie hier vorkommt. Nicht jeder, aber einige beherrschen sie, natürlich unterschiedlich stark. Die Wesen, die dich angegriffen haben, beispielsweise. Auch sie sind zauberkundig.“
„Was waren das für Geschöpfe?“, fragte er sofort, „und warum wollten sie mich töten?“
„Sie werden Drago-Soldaten genannt“, sagte Gwin schwerfällig und zog die Wangen hoch, als hätte er Schmerzen.
„Und wieso hat sich der eine freiwillig ertränkt? “
„Weil Drago -Soldaten kein Wasser vertragen. “
„Ja, hab ich gemerkt, aber wieso ist er mir dann überhaupt nach gesprungen? Wie dumm kann man sein? “
„Weil Drago-Soldaten nie von ihren Befehlen abweichen. Blinder Gehorsam ist nicht immer die beste Verhaltensweise, das heute war eine Art Musterbeispiel dafür. Aber sie wurden beauftragt, dich zu töten und zwar aus genau demselben Grund, aus dem ich bei dir bin und warum wir uns hier aufhalten. Ich sagte, Nirada sei in einer Notlage. Gewissermaßen bist du derjenige, der es daraus befreien kann.“
„Ich? Hmm?“ fragte Jamie schnell. Gwin zögerte, als habe er Bedenken, dass Jamie ihm Glauben schenken würde. „Erzähl es mir einfach!“ Die Stimme des Jungen klang begierig, und Gwin musterte ihn eingehend, als versuche er, in ihm zu lesen. Auf einmal wirkte Jamie sehr aufmerksam, keine Spur war geblieben von der anfänglichen Aufmüpfigkeit, mit der er Stärke hatte demonstrieren wollen. Gwin verstand. Jamie musste seit Jahren nach genau diesen Erklärungen gesucht haben, ohne sie je zu finden. Wie einsam und alleingelassen er sich auf dieser Suche vorgekommen sein musste.
„Nirada erlebt in diesen Tagen die schlimmste Zeit in seiner Geschichte. Der Fürst von Dragon beherrscht Gwest Nordia und unterdrückt die Völker meiner Heimat. Es herrscht keine Freude mehr in Nirada, sondern nur noch Willkür und Gewalt. Der Fürst kennt keine Gnade, weder mit Feinden, noch Untergebenen, noch Freunden. Er nutzt seine magischen Fähigkeiten, die bedauerlicher Weise umfassender sind als die eines jeden anderen, der je in Nirada gelebt hat, um den Menschen alles zu nehmen, woran sie je Freude hatten. Ein Mantel der Angst und des Hasses bedeckt das ganze Land und raubt seinen Bewohnern den Schlaf.“
„Das hört sich nicht so gut an“, evaluierte Jamie, und Gwin stieß ein ungehalten spitzes Lachen aus.
„Nein, in der Tat nicht. Keiner kann begreifen, woher diese wahnsinnige Wut auf Nirada kommt. Macht ist eine Versuchung, und nach ihr zu streben liegt in der Natur des Menschen. Doch der Fürst sieht sich nur sich selbst gegenüber verpflichtet. Viele Jahre schon suchen wir nach einem Weg, ihn zu stürzen, doch er schien übermächtig. Nun jedoch“, er sah Jamie aus seinen dunklen Augen an und vollkommen unvorbereitet traf diesen die Erkenntnis, „haben wir dich gefunden.“
„Mich?“, fragte er fassungslos und deutete mit dem Finger auf sich, als wolle er Gwin begreiflich machen, von wem er da sprach.
„Dich!“, antwortete Gwin grimmig,„Es ist eine Prophezeiung gemacht worden, die deine Person betrifft. Zwei Auserwählten soll das möglich sein, was keinem anderen gelingen kann. Du bist einer von ihnen.“ In Gwins Augen glänzte es, als er diese Worte sprach, und sogar das Feuer hinter ihm schien die Aussagekraft seiner Worte zu verstehen und dehnte sich kurz aus.
„Aber das kann nicht sein?“, haderte Jamie mit sich, fast so, als versuche er den Lösungsweg einer viel zu schweren Matheaufgabe nachzuvollziehen, „ wie soll ich…“
„Ich bin durch diese ganze Dimension gereist auf der Suche nach jemandem mit deinen Kräften“, entgegnete Gwin fest, „es gibt keinen Zweifel. Du bist der, den ich gesucht habe. Und die Drago-Soldaten haben es bestätigt. Sie spüren es auch.“
„Okayyy…“, begann Jamie und griff sich an den Kopf, als hoffe er, sich dadurch sortieren zu können, doch in seinem Kopf hatte nichts mehr einen Sinn, „was ist mit dem anderen Auserwählten?“
„Er befindet sich in Nirada“, sagte Gwin, nun hastig, „und das ist auch der Grund für den Angriff der Drago-Soldaten. Die Prophezeiung besagt, dass es die Aufgabe des anderen Auserwählten ist, dich in dieser Welt aufzusuchen, und dann mit dir gemeinsam nach Nirada zurück zu kehren.“
„Aber wie soll das möglich sein?“, fragte Jamie. Es schien unmöglich, sich vorzustellen, dass irgendwo in diesem Universum eine andere Dimension existieren sollte – und er dorthin reisen sollte.
Gwin schien sich kurz zu sammeln, dann antwortete er: „Über denselben Weg, der auch mir den Übertritt ermöglichte: Durch die Dimensionstore.“ Als Jamie ihn nur wie ein Fisch mit offenem Mund musterte, fuhr er fort: „Sieben Tore ermöglichen den Übergang. Das ist auch der Grund, warum wir hier sind: Es ist unglaublich schwer, die Dimensionstore zu finden, denn sie sind gut getarnt und können selbst an Orten erscheinen, die niemals ein Mensch erreichen wird. Es ist unseren Leuten jedoch gelungen, ein Tor ausfindig zu machen, durch das der Auserwählte gehen wird, und sein Gegenstück wird hier ganz in der Nähe erscheinen. Wenn alles nach Plan verläuft, wird der Auserwählte also schon in wenigen Wochen bei uns sein.“
„Wochen? Wieso? Was?“
„Weil der Übergang sehr beschwerlich ist und selbst die größten Krieger Schwierigkeiten damit bekommen. Er muss erst einiges lernen, um der Aufgabe gewachsen zu sein. Solange müssen wir uns in dieser Gegend versteckt halten und hoffen, dass wir unentdeckt bleiben.“
„Heißt das, es gibt noch mehr von diesen Kreaturen?“, fragte Jamie und erhob sich, doch Gwin beschwichtigte ihn mit den Händen.
„Ich bin mir sicher. Der Fürst hat die Zeichen zu deuten gewusst und offenbar ebenfalls ein Tor geöffnet, durch das er nun seine Schergen sendet, um dich zu finden. Es zeugt schon von außergewöhnlichen Fähigkeiten, dass er in der Lage ist, mehr als eine Person durch das Tor zu befördern, aber wie bereits gesagt: Er ist der wohl mächtigste Magier aller Zeiten.“
„Wie viele Drago-Soldaten sind es?“
„Es werden wohl nicht mehr als acht sein, denen er den Durchgang ermöglicht haben kann. Zwei von ihnen haben wir heute erledigt, und ich habe zwei gestern Abend vor deiner Haustür erwischt.“
„Was? Die Viecher waren bei mir zu Hause?“, rief Jamie panisch. Die Gefahr war so drohend nah gewesen, und er hatte gemütlich im Bett gelegen und an Rom gedacht. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
„Ja, aber ich habe dafür gesorgt, dass sie das in Zukunft besser lassen sollten, wenn sie nicht mit einem Fluch belegt werden wollen“, erklärte Gwin mit gewissenhaftem Schmunzeln. „Wie auch immer. Sie sind uns auf den Fersen. Wir können also nicht lange bleiben. Ich würde ein erneutes Aufeinandertreffen lieber vermeiden.“ Jamie sah das ähnlich. Am liebsten wäre es ihm, nie wieder einem dieser Wesen zu begegnen, denn auch wenn sie sie beide erledigt hatten und sie alles andere als kluge Kerle waren, waren sie doch Furcht einflößend mächtig gewesen. Er merkte, dass Gwin ihn beobachtete, und vermied es aufzuschauen. Stattdessen streckte er sich ausgiebig und gähnte. Doch Gwin ließ sich nichts vormachen.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er fürsorglich und legte die glatte Stirn in tiefe Falten. Jamie überlegte einen Moment. Gute Frage. Wie fühlte er sich?
„Wenn ich das richtig verstanden habe, werde ich in einen Krieg hineingeworfen, von dem ich nicht einmal wusste, dass er existiert, und mich verfolgen Wesen, die von einem übermächtigem Fürsten geschickt wurden, der nichts lieber hätte als mich tot zu sehen. Eigentlich müsste ich mich also absolut schrecklich fühlen, aber irgendwie ist es nicht so. Ich…bin erleichtert. Verstehst du das?“ Gwin lächelte und bewegte den Kopf, als höre er Musik. Zum ersten Mal erwiderte Jamie das Lächeln. Er wusste, dass Gwin ihn verstand, und es fühlte sich gut an. Er wusste endlich, wer er war! Und auch, wenn es nichts Gutes bedeutete, hieß es doch wenigstens, dass es einen Platz gab, an den er gehörte. Es gab andere Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten wie er selbst, und sie hatten sogar eine eigene Welt. Diese verstörende Erkenntnis brachte etwas Beruhigendes in sein Leben. Nirada, dachte er, und ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken.
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