Ich drehte langsam den Kopf etwas nach rechts und betrachtete ihr Profil, dessen Kontur sich wegen ihrer heftigen Erzählerei stets änderte. Bei der verhältnismäßig starken Straßenbeleuchtung merkte ich, dass ihre alt vertrauten Kinnhärchen doch schon ziemlich an Länge gewonnen hatten, sie sah aus fast wie die Babuschka von oben ... nur vielleicht doch nicht so hässlich ...
... Was machen Muttergottes und ihre ältere Kollegin, wenn sie nachhause gehen, nach einer Schicht mit Rasputin? Schlagen sie ihre Männer zu Brei? Klatschen sie ihre Kinder an die Wand? Oder sehen sie sich solche Telenovelas an, wie Mari, wenn sie mal richtig schlecht gelaunt ist? Ja, und damit treiben sie ihre Männer in den Wahnsinn ... Und Wjebjer selber, nach zwei Dutzend Fällen wie Schwiegermama? Er kippt sich paar Gläschen hinter die Binde, klar ... Whisky, keinen Wodka, jetzt ist er ja im Westen ... Nein, doch nicht, das wäre zu banal ... Gut, dann spielt er mit der Modelbahn, im Hobby-Keller ... Auch nicht, das ist etwas für Impotente, und Rasputin kann es nicht sein, der ist schon ein ganzer Kerl. Und er hat auch keinen Hobby-Keller – laut Schwiegermutter wohnt er ja in einem Block, wie ich, da gibt’s höchstens einen Waschkeller ... Na gut, dann spielt er Schach im Waschkeller mit seinem besten Freund, Igor oder so, ehemaliger Atomphysiker, zurzeit Hausmeister – er hatte zwar nicht so viel Glück wie Wjebjer ... Hausmeister sind auch gestresst, nach Feierabend spielen sie Schach und saufen Whisky ...
Plötzlich musste ich vor einem Zebrastreifen bremsen. Auf dem akustischen Hintergrund, in dem etwas über die unklare politische Lage in der Ukraine die Rede war, sah ich dem alten Mann zu, für den ich anhalten musste, der nun langsam und voller Würde die Straße überquerte, durch den Neonlichtkegel. Er trug einen auffallenden, meloneähnlichem Hut, eine markante Hornbrille und einen imposanten grauen Bart, einen langen, eleganten Mantel, und benutzte gekonnt, fast mit Chic, einen anscheinend edlen Gehstock, obwohl seine Beine auf keine wesentliche Behinderung wiesen. Ich hätte wetten können ... Aber Schwiegermutter war so vertieft in der Abhängigkeit der Ukraine an das russische Erdöl, dass sie sich diesmal nicht rhetorisch fragte, ob dieser Herr da vielleicht ein ehemaliger Staatsanwalt war, oder sogar ein Architekt ... Dafür grübelte ich, nachdem wir wieder losfuhren, wie Röntgen mit Vornamen bloß hieß ... Nein, Alfred war es nicht, das war der Nobel, der das Dynamit erfunden und nicht entdeckt hatte – diese Begriffe waren nur zwei von vielen, die es mir immer wieder zu schaffen machten.
„Sagen Sie mir noch mal”, unterbrach ich meine Beifahrerin, „welches ist nun der Rock und welches das Kleid ... Bei Frauen, meine ich ...”
„Was? Wie kommst du jetzt darauf ?”
Nur noch zwei Ampeln, und ich würde sie absetzen. Meine noch auf der Küchenplatte liegende Pizza ai Funghi musste zu der Zeit schon lange aufgetaut und schlaff geworden sein, und die Pilze schon völlig geschwärzt. Na und?, dachte ich. Dann werde ich sie einfach wegschmeißen müssen, und eine neue rausholen, was soll’s ... War dieser Unrasierte vielleicht doch kein Italiener gewesen? Türke war er auf keinen Fall, das wäre auch zu einfach ... Nein, er trug definitiv keinen Schnurbart, und in 1963 ... 1964? Schwiegermutter weiß es ganz bestimmt, sie hockt die ganze Zeit vor der Glotze, sie weiß über alles Bescheid ... Portugiese? Doch! Rodrigo oder Rodriguez de Irgendwas hieß der gute Mann ... Vielleicht Spanier? Rodrigo ist nicht italienisch, zweifellos. Obwohl, so gesehen, auch Kevins gibt es in alle Vororte der Welt, in alle Wohnsilos des Universums ... Der Pferde-Kevin wird meine Rente zahlen, ich zahle Schwiegermutters Rente – das verlangt der Generationenvertrag , auch wenn sie selber hierzulande keinen einzigen Tag gearbeitet hat. Der rumänische Staat ist um Schwiegermamas Rente reicher geworden, und mein Kevin wird auch die Stütze für die anderen Kevins, für Chayenne, für Petrick und für Keanu zahlen, mein Kevin ist zuverlässig, er zieht munter den Bollerwagen durch die Gegend, zu Christi Himmelfahrt zieht sein Vater den Bollerwagen durch die Gegend, voller Bierkästen ...
Die Uhr auf das Armaturenbrett zeigte viertel nach acht, bald wird auch die Mari nachhause kommen, mit ihrem verdammten, abgeschalteten Handy, und dann stemme ich mich vor ihr und sage: „Pass auf, Mädel: Als aller Erstes, morgen fährst du noch mal in die Stadt und kaufst deiner Mutter einen vernünftigen Morgenrock, für alle Fälle ... Koste es, was es wolle. Eventuell auch ein Paar ordentliche, dezente, dazu passende Pantoffeln!”
Dann werde ich mir eine weitere Pizza backen, wenn ich darauf Lust habe, eine enorm große Pizza, American style ... Ja, enorm kann hierzulande nicht selbständig atmen, enorm groß , enorm klein ... Könnte man, zum Beispiel, einen wie Wjebjer als enorm riesig bezeichnen? Warum nicht, penibel hat mit peinlich auch nichts zu tun, oder? Sicher war es, auf jeden Fall, dass man einen Krankenwagen in Anspruch nehmen konnte – Wjebjer war Russe, aber kein Idiot! Ich musste nur noch recherchieren, ob man einen Krankenwagen auch holen kann, was mit der Polizei schon funktionieren würde ... Ja, gleich nach der Amerikanischen Pizza, jetzt mit 30% mehr Salami , werde ich mir ein Bier genehmigen, dann mein neues Wörterbuch aufschlagen, das zusätzlich sogar ein kleines Kapitel Grammatik enthält, was mich alles schließlich doch nicht schlauer machen wird – und Mari werde ich keinesfalls Semantikfragen stellen, sie wird eh damit beschäftigt sein, irgendeine drastisch reduzierte Klamotte anzuprobieren ...
Nein, doch nicht, schärfte ich mir ein: Ich werde das scheiß Wörterbuch doch weglassen und werde auch nicht mehr nach Unsinn grübeln, das macht einen nur depressiv. Sondern ich werde mit meinem Olivenglas auf den Balkon gehen, auch wenn es nicht Montag ist, also mein festgeregelter Oliventag, ich werde sie alle aufessen, schön sachte, und die Steine über den Blumenkübel hinweg direkt in den Sandkasten darunter spucken, Stück für Stück ... Wer hat mir denn damals das mit einmal in der Woche Oliven essen eingeredet? Die Frau Dresch? Mari? Nein, die Dresch will ein Hundert Jahre leben, nur die kann es gewesen sein. Ja, sie ist bereits ein Hundert, will aber noch gar nicht an die Rente denken, sie praktiziert auch Yoga und Tai-Chi und Bauchtanz und was alles noch, sie fühlt sich fit ... Sie kommt auch vom Lande, ist mit den körperlichen Aktivitäten vertraut, ihr Vater soll ein Weingut besessen haben, darauf ist sie auch sehr stolz ... Irgendwo in Rheinland-Pfalz ... Falz ... Wie hat wohl Palatina zu Pfalz degeneriert? Ja, wo kommt dieser dämliche f her, und was ist mit dem p passiert, den kein Schwein mehr ausspricht? Ja, genau, wer sagt noch Ppfalz oder ... Ppfütze ? So ein Duden-Autor, vielleicht? Ein Duden- Futzi ? ... Wird das etwa Pfutzi geschrieben? ... Und ich erwarte, dass ein Kevin oder sein Vater, oder Keanus Mutter Ppferrd sagen ... Nein, definitiv, die Olivensteine werde ich von nun an in unseren Blumenkübel spucken – vielleicht wächst da irgendwann ein Olivenbäumchen daraus, dann kann ich der Dresch auch mal was erzählen. Jawohl, der Kevin hat auch das Recht auf einen sauberen Spielplatz, und ich will auch kein Integrationsablehner sein. Ein Integrationsmuffel . Nicht mal die Babuschka von oben schmeißt Sachen über den Balkonrand, auch ihr diskret hustender Alte schmeißt keine Zigarettenkippen so einfach weg, er hat ganz bestimmt einen Aschenbecher, und den leert er regelmäßig in den Hausmüllbeutel ... NICHT in den gelben Sack... Der Iraker unter uns macht auch Fortschritte – er hat zwar noch keinen Aschenbecher, dafür ein umfunktioniertes, dickes Einmachglas, welches in der pflanzenlosen Erde seines Balkonkübels steckt; Schade nur, dass, wenn das Glas voll ist, der Iraker es wie selbstverständlich auf den Spielplatz kippt ... Armer Kevin ... Kevin könnte Klassenprimus sein, bei seinem Fleiß ... Und, wer weiß, vielleicht auch der Keanu, in seiner Vorstadtschule ...
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