„Zementzky.”
„Ja ... Nee, Quatsch, Simentzki”, schmunzelte sie endlich, aber nur kurz. „Manchmal nenne ich ihn so, aber auch Betonski, weil er so betonköpfig ist, verstehst du ... Na, und als ich dem Trottel erzählt habe, dass ich an dem Pankreas operiert worden war, glotzte er mich nur blöd an – Wie, bitte? – Pankreas, wiederholte ich, B a u c h s p e i c h e l d r ü s e, du gottverdammter Idiot!”
Ich zog die Augenbrauen hoch.
„Nein”, milderte sie den Ton, „natürlich hab‘ ich es ihm nicht direkt so gesagt, ins Gesicht, aber ... Ich bin schon immer eine Dame gewesen, das weißt du doch, so bin ich nicht. Der ist Pole, so denk‘ ich mir. Nein, der ist Pole, was! Er spricht zwar so wie die hier, manchmal sogar mit dat und wat , wenn er sich volksnah geben will – das tun die alle da, weißt du, um keine prollische Kundschaft zu verlieren, aber erzähl mir bitte nicht, dass das kein polnischer Name ist! Ein blöder Pollake ist er, so einer, dessen Familie schon in den Sechziger-Siebziger eingewandert ist. Möglichst aber auch ein Nachkömmling jener Gastarbeiter, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Ruhrgebiet angesiedelt wurden, zum Kohlenabbau – hab ich dir schon mal erzählt, oder? Mit den Masuren und das alles?”
„Doch-doch!”, eilte ich.
„Nun, es mag wohl sein, dass der in Deutschland studiert hat, oder er ist sogar hier geboren – kann schon sein. Aber auf jeden Fall, egal wo du Medizin studiert hast, musst du die griechischen und lateinischen Hauptbegriffe kennen! So! ... Ach, ich hab’s: Doktor Bunaciu hieß der junge Arzt, der mein Pankreas gefügig machte! Jaja, Bunaciu hieß er, genau. Sssehr gute Familie – lauter Ärzte, Staatsanwälte und so weiter ... Ein Onkel von ihm war Kunstmaler, so, ein moderner, aber sssehr berühmt ... Er hieß zwar anders, vielleicht war er von mütterlicher Seite, und seine Mutter hatte ich schon früher gekannt, sie war Personalchefin bei ...”
Und weiter so.
Ich wurde langsam müde, und dann ssssehr müde, und ich gähnte einige Male im Verborgenen, mit zusammen gekrampften Kiefer. So heftig, dass mein Kopf zitterte und ich feuchte Augen bekam. Nur mein Respekt vor der älteren Generation und mein steigender Hunger hielten mich vom Einschlafen ab. Vielleicht aber auch die wackelige Härte des Drehstuhls, auf dem ich saß. Hätte die genannte Generation nur eine verdammte halbe Stunde später angerufen, hätte ich meine Pizza schon im Magen gehabt ... Nein, bloß nicht, fiel mir ein, – dann wäre ich nun durstig gewesen, also noch schlimmer ... Ob da irgendwo so ein Gerät, ein Getränkeautomat rum stand? Nein, ich hatte nirgendwo einen gesehen, auf den unendlichen Fluren. Oder doch? Und, wenn schon, jeder verdammte Automat auf dieser Welt funktioniert anders, bei jedem blamiert man sich. Kleingeld hätte ich schon dabei gehabt, hatte ich ja immer ... Coco Chanel soll einmal gesagt haben, dass eine Dame, die etwas von sich hält, nie eine Beziehung mit einem Mann anfangen sollte, der in seinem Portemonnaie ein separates Abteil für Kleingeld hatte ... Oder war es doch dieser Karl Lagerfeld? Auf jeden Fall, den ganzen Tag hatte ich lediglich einen Kaffee getrunken, in der Firma, und zwar mit Süßstoff, damit Frau Dresch nicht mehr staunt, Meensch , Constantin, um Gottes Willen, drei Löffel, das ist irre! Wo hast du denn gelernt, wie man Kaffee trinkt ? ...
... Sollte ich es wagen, den blöden Drehstuhl abzugeben und mich auf dem weißbedeckten Bett setzen? ...
... Gott, wer war denn der Kretin, der behauptet hat, dass, je älter man wird, umso mehr hat man den Eindruck, die Zeit verginge immer schneller? ... Obwohl ... Ja, doch, ich bin in den letzten Stunden um mindestens fünf Jahre älter geworden, alles tat mir weh – wahrscheinlich sind meine Haare schlohweiß geworden, der Krankenhaustechniker ist inzwischen nach Japan gereist, um das Ersatzteil zu besorgen, da hat er sich in einer Japanerin verguckt, die haben irgendwann geheiratet, ein Haufen niedliche, gelbe Kinder gezeugt ... Der Techniker hat sich einen neuen Job gefunden, bei Fuji ... oder woanders ... Jedenfalls, da hat er jede Menge Stress, Japan ist bekanntlich ein furchtbar stressiges Land, vielleicht hat er sich schon umgebracht, er hat sich vor die U-Bahn geschmissen ... oder sogar vor diesem Shun-kan-sen ... Sun-yat-sen ... Nee, vor die U-Bahn, na!
Ob es auf dieser Welt auch solche gegeben hat, die sich einfach aus purer Langeweile umgebracht haben? Dieser Raum liegt eh in der Parterre, dachte ich, und ich sah mich noch einmal verstohlen um: Nein, absolut sicher, da sind überhaupt keine Fenster, ich könnte es nicht mal versuchen.
„Was ist, suchst du was?”
„Nein”, erquickte ich mich. „Ist das vielleicht ein komisches Zimmer hier – so winzig, und ohne Fenster ...”
„Ja, so was gibt’s auch ... Wusstest du, dass, die in der DDR, solche Küchen hatten, in ihren Wohnblocks? Überhaupt kein Licht von draußen, nur eine dämliche Neonlampe ...”
„Nein!”, staunte ich.
„Doch, hab‘ ich in eine Reportage gesehen ...”
Ihre von mir gerade unterbrochene Geschichte war somit unwiderruflich verloren gegangen, aber das tat nichts, Schwiegermutter hatte jetzt eine fette Ader gefunden, und sie stürzte sich auf die Ossis, mit voller Wucht ...
Doch, Schwiegermutters Stimme hörte sich irgendwie anders ... Aha ... Komisch, ich hatte es bis jetzt gar nicht gemerkt, sie trug tatsächlich ihre neue Zahnprothese! Was heißt schon neu – die hatte sie bereits seit einigen Jahren bekommen, trug sie aber nur hin und wieder, zum Beispiel wenn sie mal in die Stadt ging, oder zu Behörden musste ... Nicht aber, wenn sie zu uns auf Besuch kam, zum Essen, an Weihnachten und Ostersonntag, dann war sie mit dem alten Gebiss ausgerüstet, welches noch von Doktor Bratu stammte – den besten Zahnarzt in Temeswar, und nur dieses Gebiss passte überein, auch wenn es vielleicht nicht so schön war ... „Aber warum hast du dir denn noch eines anfertigen lassen”, hat Mari sie einmal verärgert gefragt, und Schwiegermutter hat darauf pikiert geantwortet, „Na ja, weil diese Rotznase es so wollte, was glaubst du! Der Trottel meinte, das Alte sei Mumpitz, die Statik sei nur dürftig kalkuliert worden, und wie konnte ich nur mit diesem Unfug in meinem Munde leben, sagte er, und er würde keine Verantwortung übernehmen, wenn ich die Zähne einmal runterschlucken würde! Deswegen!” Die Rotznase war ein junger Zahnarzt, dessen Praxis zwei Ecken von ihrer Wohnung stand. „... Und so ein Halbwüchsiger erzählt mir von Statik und Haftkräften und was weiß ich!”, hatte sich damals Schwiegermutter empört. „Na freilich, alles was von woanders kommt ist Murks, und die Haftung ist miserabel ”, hatte sie die Rotznase nachgeäfft, „also da muss unbedingt eine neue Dentur her, aus anständigem Material und so weiter, meinte der Knirps. Paar Tausender hat er dafür kassiert, und sie sitzt überhaupt nicht, sie ist zu eng gearbeitet, ich kann mit dem Zeug überhaupt nichts essen, es drückt überall!” Und sie hatte die Oberlippe sehr hoch gezogen, damit wir beide sehen, wie blau jetzt das Zahnfleisch war. Bezahlt wurden die neuen Zähne von dem Sozialamt, das Amt nannte Schwiegermutter es – sie hatte wohl Kafkas Gesamtwerke in Augenhöhe im Bücherregal stehen –, und deswegen war sie immer noch davon überzeugt, das Gebiss sitze zu eng nur weil das Amt lediglich für die minderwertigsten Materialien zahlte, für ordinäres Steingut aus China, etwa, und aus so einen Schmarrn könne kein Techniker der Welt etwas anständiges basteln, sei er auch ein Genie. „Was ganz bestimmt nicht der Fall ist”, hat sie versichert. „Aber der Bratu, der hatte gute Techniker! Er selber entwarf das Gebiss so perfekt, dass seine Leute aus jedem möglichen Stoff etwas Ordentliches basteln konnten”, und jetzt dachte ich nach und wusste nicht mehr, ob Doktor Bratu einen ganzen Lehrstuhl an der Medizinischen Fakultät belegt hatte, oder nur eine Hälfte ... Doch, erinnerte ich mich, nur eine Hälfte, er sei „sssehr volksnah” gewesen, er hätte locker einen ganzen Stuhl haben können, wollte ihn aber nicht, er wollte so viel wie möglich an den Patienten arbeiten, „und nicht den ganzen Tag Vorlesungen vor einem Haufen Taugenichtse halten ...”
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