„Soll ich denn diesen Zementzky anrufen?”
„Nein!”, kam sofort die kategorische Antwort. „Den will ich nie und nimmer wieder sehen!”
Tja, es war tatsächlich dumm gewesen, sowas zu fragen – ich wusste wohl schon seit ein paar Jahren, dass sämtliche Allgemeinärzte bundesweit, oder zumindest jene auf einem Kilometer Radius von ihrer Wohnung entfernt, lauter inkompetente, eingebildete Scharlatane waren.
„Na dann muss ich halt einen Krankenwagen bestellen.”
Meine Schwiegermutter schien auch von dieser Idee nicht unbedingt entzückt zu sein: Sie schüttelte ratlos den Kopf, drehte sich dann mit einer enttäuschten Miene um, wankte zögerlich bis hinter den Fernsehsessel und griff die dicke Rücklehne mit zittrigen Händen. Ich betrachtete eine Weile, vom Profil her, ihren zusammengebissenen Mund und wünschte mir sehr, dass mir etwas Großartiges einfällt, eine blitzschnelle, effiziente Lösung, irgendwas ... Oder zumindest ein passender Spruch. Ich hatte schon lange mitbekommen, dass sie sich immer einen Arzt als Schwiegersohn gewünscht hatte – einen großen, berühmten Doktor, mit Publikationen, einen universitären Lehrstuhl und Terminen in acht Monaten, eventuell einen Nervenchirurgen – so, in der Richtung. Oder zumindest einen Deutschen.
„Soll ich ihnen einen Tee kochen? Ich meine, etwas so ... aus Heilpflanzen, was weiß ich ...”
Mein Blick bewegte sich hilflos zu ihrer zerklüfteten Kochnische, die in einer Ecke des Zimmers eingebaut war.
„Die Mari ist in der Stadt ...” seufzte sie, verzweifelt.
Tja. Und ich stand da rum, Rumäne und Nichtarzt, und wusste nicht weiter. War nicht einmal sicher, ob man einen Krankenwagen bestellt, wie ein Taxi, oder man ruft einen, einfach. Und die verdammten Läden würden erst um acht schließen, die Öffnungszeiten müssen kundenfreundlich sein, nicht wahr, sonst würde die wirtschaftliche Konjunktur nie wieder anspringen, und die Chinesen würden uns niederwalzen. Der zögernder Konjunktur zugute würde meine Frau frühestens um halb neun erscheinen, mit ihren Einkaufstüten von Billigläden voll bepackt, keine verdammte Minute früher! Klar, sie hat doch auch das Recht, sich mal zu entspannen, was habe ich schon von der Woche ?
Plötzlich fing ich an, so, mir nichts – dir nichts, verschiedene Diagnosen zu formulieren, und fragte mich dabei, warum ich es tue. Na ja, jeder fühlt sich irgendwie verpflichtet, wenn es um das Leiden eines anwesenden Zeitgenossen geht, seinen Senf dazu zu geben, das ist immer so. Aber Schwiegermutter rümpfte nur die Nase und starrte schmollend ins Leere. Ich überlegte, ob ich sie fragen sollte, was sie eigentlich vorschlagen würde, oder was genau sie von mir erwartete – wie ich vor kurzem in einem von der Firma bezahlten Konfliktmanagement-Seminar erfahren hatte – aber ihre Einstellung machte es mir deutlich, dass sie meinerseits überhaupt nichts erwartete. Also musste ich handeln, wenn ich nicht noch mehr an Gesicht verlieren wollte:
„Ja, ich rufe den Krankenwagen.”
Die Leute kamen schnell und, Gott sei Dank, ohne Martinshorn – die von mir am Telefon gestotterte Symptomenbeschreibung war offensichtlich nicht gerade niederschmetternd gewesen. Oder die Tatsache, dass die Patientin 70 war, durfte auch eine Rolle spielen? Damals, in Rumänien, wenn ein löffelabgebender Patient im Rentenalter war, da kam kein Schwein. Aber das war ja damals, und nur noch meine Schwiegermutter pflegte den ganzen Tag und ewig unaufgefordert über jene Zeiten zu labern.
Einer der in spektakulären Feuerwehranzügen bekleideten Männer befragte sie leise und sachlich, maß unbeteiligt ihr Blutdruck und zuckte schließlich die Schulter.
„Unser Notarzt ist leider woanders unterwegs, wir müssen Sie dann mitnehmen.”
Schwiegermutter wollte partout nicht auf die Trage, und die beiden Sanitäter atmeten fast offenbar erleichtert auf – sie ist zwar eher klein, dafür sehr kräftig – wie man hierzulande so schön sagt. Sie tapste schräg und langsam, auf ihre resigniert-zögernden eigenen Beinen, die Treppe hinunter, mit beiden Händen das Geländer umklammernd, sodass ich eh nicht mehr die Möglichkeit gehabt hätte, sie an den Arm zu stützen. Die Männer trampelten ernst und in angepasstem Rhythmus in ihren schweren Stiefeln voraus, mit der Trage und dem genauso nutzlosen Medizinkoffer, bereit für den Fall, dass sie die tapfere Dame doch auffangen müssten. Ich folgte ihr, stets zwei Stufen höher, schön sachte, und innig betend, dass die Nachbarn nichts mitkriegen und ihre Köpfe aus den Türspalten rausstrecken. Der zweite Stock ... Dann eine Ewigkeit ... Der erste Stock ... Und sie wollte damals von der Zweizimmerbude in dem Wohnblock mit Aufzug, paar Ecken von uns, gar nicht hören, wie, mit dem ganzen Gesindel da ?
Endlich das Erdgeschoss, schön langsam an der Briefkastenreihe vorbei ... Wenn sie jetzt noch nach der Post nachschaut, dann ...
„Äh”, wendete sich einer der Retter mir zu, der wie ein Italiener aussah, rheinländisch sprach und eine Art Team-Chef zu sein schien, „wenn Sie mitkommen wollen, dann müssen Sie nachfahren, sind Sie motorisiert?”
Ich nickte brav.
„Die Dame wird im Sankt-Andreas eingeliefert, wissen Sie, wo dat is‘?”
Nach einer Fahrt durch den Feierabendverkehr, die wie eine Verfolgungsjagd in Zeitlupe aussah, bog der sperrige, wie für Bahnkatastrophen dimensionierte Rettungswagen in den Krankenhaushof hinein, und zwei Sekunden später senkte sich eine abweisende Schranke unerbittlich vor meiner Stoßstange zu. Ich trat wild auf die Bremse, fluchte gedämpft und grauenhaft auf Rumänisch durch zusammengebissenen Zähnen, legte mit durchdrehenden Rädern zurück und fing anschließend an, in der frühen Novemberdämmerung, nach einer freien Parkstelle auf den Straßen rund um das riesige Gebäude zu suchen.
Eine halbe Stunde später stand ich demütig vor der Auskunft, und eine putzige Dame mit Designer-Brille auf der Nase wies mir, deutlich artikulierend und abwesend lächelnd, den Weg zur Ambulanz.
„Ist auch überall ausgeschildert”, versicherte mir die Frau zum Schluss, nachdem sie über die Designer-Brille flüchtig mein Gesicht betrachtet hatte, als ob sie sich doch noch vergewissern wollte, ob ich lesen konnte, also nickte ich selbstbewusst und machte mich munter auf den Weg.
Glücklicherweise stimmte ihre Aussage, an jeder Ecke waren Schilder und Pfeile angebracht, wie für verzweifelte Menschen halt, so dass, am Ende von unzähligen Korridore, die quer und um das ganze Krankenhaus zu führen schienen, und nachdem ein Dutzend spektakuläre, selbstöffnende Türen mir den Weg frei machten, ich siegesfroh den stark beleuchteten Raum fand, mitten dessen ein riesiger Rollstuhl stand, in welchem meine Schwiegermutter saß, Kopf tief zwischen den Schultern eingedrückt.
„Na endlich!”
Ihre Gesichtsfarbe schien mir nicht mehr so furchterregend, dafür hatte ihre Stimme deutlich an Schärfe gewonnen.
„Ich habe keinen Parkplatz gekriegt, tut mir leid.”
„Und wo ist das Auto jetzt?”
„Am Bahnhof.”
„Am Bahnhof!”
Sie war sichtlich aufgeregt, aber meine Ankunft schien sie doch etwas beruhigt zu haben, was mich auch ein bisschen stolz machte. Ich blieb einige Augenblicke vor ihr stehen und sah mich um, die Daumen unter die Rucksackriemen gezwängt. An zwei der Wänden waren Stuhlreihen angebracht, und da saßen die anderen Notfälle: ein Handwerker im Blaumann, der gebückt nach vorne saß und seine Unterarme an den Bauch presste; eine junge Frau, die eine bandagierte Hand ausgestreckt auf dem Knie hielt; eine mutmaßliche Mutter neben einem Knirps, der ein dickes Pflaster auf das linke Auge geklebt hatte und eine Brille trug, von der die Linse vor dem gepflasterten Auge fehlte; schließlich, zwei nebeneinander sitzende ältere Herrschaften, die ein Paar sein durften und keine sichtbaren Leiden zeigten – außer sie waren beide sehr blass und machten einen beängstigten Eindruck. Alle schwiegen und betrachteten uns, mehr oder weniger offensichtlich.
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