Mann, fiel mir auf, jetzt höre ich ihr nicht zu, und stattdessen wälze ich ihre anderen Geschichten im Kopf herum, ich hab’ sie offensichtlich nicht mehr alle!
Ja, ich musste mir ein anderes Thema aussuchen, definitiv, sonst würde ich womöglich einpennen, von diesem sadistischen Hocker umkippen, mit der Birne auf den Boden aufschlagen ...
Ich blickte kurz zum Fußboden, er war mit Linoleum bedeckt, ganz bestimmt direkt auf dem Estrich geklebt ... Eine Gehirnerschütterung wäre das Harmloseste ... Heißt es Hirn erschütterung? ... Nur Schwiegermamas Knarrkiste würde nie umkippen, sie ist unglaublich stabil ... Hauptsache, stets auf Deutsch denken, sonst bringt das alles nichts ... Schüttert man oder er schüttert man etwas? Und wo ist, eigentlich, der Unterschied zwischen Hirn und Gehirn? Zwischen Stirn und Dreigestirn kann man schon eine Grenze ziehen, gibt es aber so was wie ein Gestirn, einfach so?
„Und die sollen ja froh sein, dass der Kohl ihnen ihre schäbigen DDR-Mark eins zu eins umgetauscht hat, und nicht mehr ständig rummeckern und jammern ...” mahnt Schwiegermama, sauer.
... Wird nun Métier , in einem deutschen Text, groß oder klein geschrieben? Laut Duden? ...
... Ein Dreigestirn besteht aus drei Personen, beim Karneval. Da gibt’s einen Prinzen, einen Bauern und eine Funkemariechen, nein, das Funkemariechen, wegen des – chen . Also ein Funkemariechen, zwei Funkemariechen, da ändert sich nichts. Wobei es gar keine zwei davon geben kann, sonst würde das oder der Dreigestirn keinen Sinn mehr machen. Moment, Stirn ist weiblich, aber Dreigestirn fühlt sich nicht wie die Dreigestirn an, also etwas passt da nicht ...
Irgendwann wurde ich sehr scharf darauf, meine Taschenuhr zu betrachten – ein Weihnachtsgeschenk von der Schwiegermutter, die fest der Meinung war, dass echte Gentlemen eine Taschenuhr trugen, das bedeutet so eine, wie ich jetzt im Rucksack hatte, mit Kette und versilbertem Deckel. Ich rührte mich aber nicht – wozu auch? Was bringt es einem Hungernden, der noch einmal ausführlich über die Familie Bunaciu aufgeklärt wird – auf welcher Weise ist ihr bloß gelungen, dieses Thema erneut aufzurollen? – zu wissen, wie spät es eigentlich ist? Einem in der Zeche zugeschütteten masurischen Gastarbeiter wäre es auch vollkommen wurscht gewesen, ob es fünf vor halb sechs war, ob Freitagnachmittag ... Ob pizza ai funghi – oder Pizza ai Funghi – in Deutschland zu jenem Zeitpunkt schon ein Begriff war, oder sich das Rezept in der Tasche des millionsten Gastarbeiter befinden würde, desselben verwirrten, unrasierten, mageren Italieners, der Anfang der Sechziger eine Mofa – oder vielleicht einen Moped oder gar ein gemeines, beschissenes Fahrrad von der Bundesregierung geschenkt bekommen würde ... Die Bundesregierung bestand, in jenem Filmchen, aus einem Halbdutzend behüteten Greisen, die idiotisch und in schwarz-weiß rumgrinsten, auf einem schwarz-weißen Bahnsteig. Nur der Pizza-Mann grinste nicht, er stand nur verwirrt rum ... Ob ihm jemand erklärt hatte, worum es überhaupt ging? ...
... Gibt es eigentlich einen wesentlichen Unterschied zwischen Mofa und Moped? ... Egal ... Volksnah ejaal ... Tatsache war, dass die Mutter meiner wunderbaren Gattin da hockte, eine Armbreite von meinen bleischweren Augenlidern entfernt, mir einmal mehr von ärztlichen Praktiken und Prinzipien im Allgemeinem erzählte, und von den Siebenbürgischen insbesondere, wobei sie mich überzeugend anstarrte und sich, ab und zu, den Morgenrock über das Nachthemd zurechtzog. Unwillkürlich stellte ich fest, dass dieser hellblaue, billige Morgenrock aus Poly -irgendwas, noch aus der alten Heimat stammte, also mindestens acht oder neun Jahre alt sein musste. Meine langsamen Blicke schlichen zu dessen Revers, dann zu den Manschetten: Der Stoff war überall verfusselt und auch leicht vergilbt, in dem schlechten Licht glaubte ich sogar einen dünnen, speckigen Rand an den Manschettenfalten zu entdecken, das auch noch ... Und diese zotteligen, rosafarbenen Hauspantoffeln, die sahen auch zum kotzen aus ... Sind das nicht jene, die sie damals, vom Roten Kreuz im Übergangslager Unna-Massen bekommen hatte? Gott, viel mir ein, was, wenn der Behandlungsraum ordentlich beleuchtet sein wird? Ja klar, dort muss es wohl hell sein, sonst kann der Arzt keine Besoffenen mit Stichwunden und Motorsäge-Opfer zusammenflicken ... Und gestern Abend hatte ich auch nichts gegessen, ich war zu müde und zu aufgebracht gewesen, als ich nachhause gekommen war – hatte ich vielleicht doch ein Bier getrunken, bevor ich mich ins Bett schmiss? Ich spürte, wie mein Magen heftig in allen Richtungen zuckte, das entsprechende Knurren zu hören wäre nicht möglich gewesen, Schwiegermutter war allmählich furchtbar laut geworden – hatte sie vielleicht gemerkt, dass ich kurz vor dem Einschlafen war und wollte mich nicht verlieren?
„Haben Sie Ihr Kärtchen dabei?”, profitierte ich von einer Atempause, die eine detaillierte Dissertation über den Mafia-ähnlichen Strukturen im sozialistischen System unterbrach.
„Doch, hier”, und sie deutete, mit einer steifen Bewegung, an die ausgebeulte Morgenrocktasche. „Ich hab’s schon den Weibern von dem Schalter gezeigt, diesen unverschämten, rücksichtslosen ...”
Somit überbrückten wir – vielleicht erneut? – zu dem medizinischen Aushilfspersonal hierzulande, das, lass es uns mal so sagen , möglicherweise nicht so bestechlich war wie in Rumänien, zum Beispiel – gut, aber ich soll Schwiegermutter nicht behaupten, dass ...
... Wie war ich wohl zu dem Schluss gekommen, dass die Auskunfts-Tussi unbedingt Designerbrillen trug? Nur, weil sie irgendwie auffallend aussah? Irgendwie anders als die von Mari, zum Beispiel? Maris Gestell war Null-Tarif-Zeug, und auch ganz banal, in der Tat ... Augen -Optik ... Hör -Akustik ... Keinem einzigen Sprachwissenschaftler hierzulande soll es bis jetzt aufgefallen sein? ... Ja, diese Empfangsfrau war hübsch gewesen, wahrscheinlich deswegen ... Auf jedem hübschen Gesicht sieht eine Brille wie eine Designer-Brille aus ... Augengläser , sagt meine Schwiegermutter, Mari sagt das auch so ... Oder vielleicht nur zuhause? Mari hat auch ein schönes Gesicht, aber ihre Brille fällt überhaupt nicht auf, auch wenn das Gestell ... Mari ist jetzt in der Altstadt, sie steht vor der Vitrine eines Augen -Optikers und schielt auf ein Gestell von Pierre Cardin ... oder wie die alle auch heißen ... Dann wird sie sich wahrscheinlich eine Curry-Wurst kaufen? Nein, das wird sie bestimmt nicht, sie ist zu geizig ... Ja, die da, im Krankenhaus, die müssten schon so was wie eine Cafeteria haben oder so, eine Kantine, ein Kiosk ... Und Kaffee müsste es da auch geben, auch wenn man ihn aus einer Thermosflasche in einen Plastikbecher eingeschenkt bekommt ... Nee, das muss ich mir abschminken, die Weiber könnten zu jeder Zeit auftauchen ... Doch, die packen Schwiegermama weg, und danach kann ich in Ruhe suchen ... Nein, passt nicht, ich muss dann auch mitgehen, sonst legt sie sich auch noch mit dem Arzt an, sie schlägt seine Apparatur zu Scherben, der lässt die Security-Beauftragte kommen ... So, zwei kastige schwarze Pfleger, die Schwiegermama mithilfe von profi Kampffiguren zur Raison bringen ... nein, ein Schwarzer und ein Weißer, politisch korrekt ... Anschließend muss ich einem Polizeiwagen nachfahren ... Aber, wenn wir auf dem Revier gelangen, dann bestelle ich mir eine Pizza, per Handy – verdammt noch mal, so etwas habe ich noch nie gewagt! War jener Obdachlose, damals, in der Altstadt, etwa emanzipierter als ich?! Hömma’ , hatte der Mann damals in sein Handy hinein gebrüllt, so laut, dass ihm die ganze Fußgängerzone zuhören musste, aber mit ordentlisch Parmesan drauf, ja? ... Ja, im Zentrum, du Paparazzi, sach isch doch! Vor die Kirsche, Mann! ... Komm du nur hierher, dann seh isch disch, verdammt, so schwer kann dat nischt sein! Recht hatte er, so einfach kann dieses scheiß Leben sein! Auf dem Polizeirevier, du dämlicher Paparazzo, sach isch doch! Du sachst den Bullen da, du suchst nach so’n Rumänen, dessen Schwiegermutter das Ambulanzpersonal von Sankt-Andreas vermöbelt hat, dann wissen die Jungs, worum’s jeht! Ja, und für meine Angehörige bestelle ich Frikadellen, die ich ihr dann durch die Gitter des Arrestraums hindurchwerfe ... Aber es ist noch nicht soweit, also zurück zur Brillentante vom Auskunftspult, die tatsächlich nicht schlecht aussah: Als was könnte man sie eigentlich bezeichnen? Schwiegermutter würde sie sofort als Pförtnerin etikettieren, aber sie ist keine Pförtnerin – Pförtner tragen immer so was wie eine Uniform, meist dunkelblau, eine sehr praktische Farbe ... Zumal sie irgendwie Autorität ausstrahlt ... Unsere Frau Schmock trägt auch stets einen dunkelblauen Sakko ... Ja sogar eine Krawatte ... oder? Morgen, Frau Schmock! Morgen, Herr... Sie weiß es nie ... Einen Schlips ... Nein, Schlips trägt sie nicht, was fällt mir bloß ein?
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